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Meinungen zu G. A. Bürger und seinem Werk
Im Bürger-Archiv gibt es ein sehr umfangreiches Kapitel Rezeption. Es handelt sich um editierbare Volltexte, die sich mit Bürger und seinem Werk befassen. Will man Bürgers Wirkungsgeschichte verstehen lohnt es sich in diesem Bereich zu blättern. Die zugehörigen bibliographischen Daten sind in der Bibliothek bzw. der Rezeption des Bürger-Archivs mittels der Jahreszahl zu finden. Teilweise sind es Ausschnitte aus Beiträgen, die vollständig in der Bibliothek zu finden sind. Die Rechtschreibung folgt jeweils dem Original. Im Bürger-Archiv ist die Rezeptionsgeschichte in Gruppen von jeweils maximal 200 Einträgen dargestellt. Eine bedeutende Rolle spielt das Verhältnis Schiller zu Bürger, da dieses entscheidend für die Wahrnehmung Bürgers seitens der Literaturwissenschaft war. Vereinfacht gesagt lassen sich zwei Meinungsblöcke unterscheiden: einmal die Literaturgeschichten, deren Verfasser meist den Schillerschen Idealismus vertreten (was in gewisser Weise die offizielle Sichtweise war) und das Feuilleton, das vorwiegend Bürgers Realismus bevorzugt.
Wegen der Vielzahl der Beiträge gibt es hier die Möglichkeit, gewisse Zeiträume auszuwählen:
ab 1835 ab 1880 nach 1945
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1773 Johann Wolfgang von Goethe “Das Minnelied von Herrn Bürger ist besserer Zeiten werth, und wenn er mehr solche glückliche Stunden hat, sich dahin zurück zu zaubern, so sehen wir diese Bemühungen als eins der kräftigsten Fermente an, unsre empfindsamen Dichterlinge mit ihren goldpapiernen Amors und Grazien, und ihrem Elysium der Wohlthätigkeit und Menschenliebe vergessen zu machen.”
1773 Heinrich Christian Boie [an Bürger] “Falk grüßt Sie und schreibt, daß Alles um ihn von Lenore voll ist, und daß er sie auswendig weiß. Göthe hat sehr begeistert mit ihm davon gesprochen.”
1774 Johann Wolfgang von Goethe an Bürger “Ich schicke Ihnen die zweyte Auflage meines Göz. […] Ich thue mir was drauf zu gute, dass ich's binn der die Papierne Scheidewand zwischen uns einschlägt. Unsre Stimmen sind sich oft begegnet und unsre Herzen auch. Ist nicht das Leben kurz und öde genug? sollen die sich nicht anfassen deren Weg mit einander geht. Wenn Sie was arbeiten schicken Sie mirs. Ich wills auch thun. Das giebt Muth. Sie zeigens nur den Freunden ihres Herzens, das will ich auch thun. Und verspreche nie was abzuschreiben.”
1774 Anonym “Vielleicht wollte Hr. B. aber auch weiter nichts, als seine Kunst in Schilderung grauenvoller Scenen zeigen, in welcher Absicht das Lied allerdings ein Meisterstück ist; daß Lenore den Leser für sich intereßiren sollte, verlangt er wohl nicht. Der Character selbst ist nicht sehr wahrscheinlich. Verunglückte Liebe, geht bey dem sanften Geschlechte, leicht in Andacht über, am allermeisten war das bey der Tochter einer so vernünftig frommen Mutter zu vermuthen. So hätte Lenore des Lesers Mitleid gewonnen, und über ihr Grab wären Thränen geflossen, wie über Heloisens Grab fliessen: jetzo wendet der fühlende Leser das Gesicht von einer Rasenden die sich wider Gott empört, und der Seligkeit entsaget.”
1774 Johann Georg Jacobi “Nichts weiter mehr von den gegenwärtigen, als ein Glückwunsch an Hrn. Bürger zu seiner Lenore. Welche Kunst in der Behandlung eines solchen Gegenstandes! Eine beständige Mischung des Comischen und des Gräßlichen, ohne daß sie beleidigt! Am Putztisch und am Spinnrocken auswendig gelernt, und vom Kenner bewundert! Ein Gespenstermährchen, und ein Meisterstück der Poesie!”
1778 Christoph Martin Wieland “Wer, in kurzem, wird nicht Bürgers Gedichte auswendig wissen ? In welchem Hause, in welchem Winkel Teutschlands werden sie nicht gesungen werden ? – Ich wenigstens kenne in keiner Sprache etwas Vollkommeneres, in dieser Art; nichts das dem Kenner und Nichtkenner, dem Jüngling und dem Manne, dem Volk und der Klerisei, jedem nach seiner Empfänglichkeit, so gleich angemessen, genießbar, lieb und Wert sein müsse als Bürgers Gedichte.[...] Die meisten scheinen, so lebendig und rein und ganz wie sie da stehen, auf einmal aus dem Wesen des Dichters hervorgekommen zu seyn, wie Minerva aus Jupiters Kopfe - Wahre Volkspoesie - und doch alles, was nicht blos Ausguß der Burlesk-komischen Laune eines Augenblicks ist, so schön, so poliert, so vollendet! und bey allem denn doch so leicht, so wie durch einen Hauch hingeblasen! und bey aller dieser Leichtigkeit und Grazie, doch so lebendig und markicht, so voll Saft und Kraft! Leib und Geist, Bild und Sache, Gedanke und Ausdruck, innere Musik und äussere Melodie der Versification, immer Alles so Ein Ganzes!”
1781 Karl August Kuetner “So ganz frey von Nachahmung, als Bürger, sind nur wenige Dichter unsers Jahrhunderts. Weder die Griechen, noch Horaz, noch die französischen Liedersänger waren seine Führer und Muster; nur in seinen Romanzen blickt Studium der alten englischen Balladen durch. Er ist ein Mann von teutschem Geist und teutschem Herzen, originell in seinen Erfindungen und im Ausdrucke populär und erhaben. Seine kleinsten Lieder sind voller Geist und Grazie, warm und markigt, und von unbeschreiblicher Lieblichkeit. Er singt Liebe, Freundschaft und Freude mit eigenthümlicher Züchtigkeit und Naivetät, er lehrt Tugend und teutschen Biedersinn mit einnehmender Ueberredung. Bald rührt er die Leyer zum Preise der holdseligen Mutter Natur, oder ihres Meisterstücks, der weiblichen Schönheit, bald erweckt er Empfindungen, die jede Nerve des Gefühls erschüttern. Unsrer Sprache ist er ganz mächtig; er hat Worte von altem Schrot und Korn und viele burleske Wendungen, ächten Witz und überfließende Laune.”
1789 Christian Gottlob Heyne “Aber allen Zauber der Kunst, Pracht von Bildern und Symbolen, Schätze der Sprache, Musik des Versbaues und was mehr ist, die ganze Fülle und Tiefe seiner Empfindungen hat der Dichter in dem hohen Liede von der Einzigen aufgeboten. Es ist, nach des Rec. Gefühl, das erhabenste und vollendetste in der lyrischen Poesie, was unsere Sprache aufzuweisen hat.”
1789 Friedrich Schiller “Bürger war vor einigen Tagen hier, und ich habe die wenige Zeit, die er da war, in seiner Gesellschaft zugebracht. Er hat gar nichts Auszeichnendes in seinem Aeußern und in seinem Umgang - aber ein gerader, guter Mensch scheint er zu seyn. Der Charakter von Popularität, der in seinen Gedichten herrscht, verläugnet sich auch nicht in seinem persönlichen Umgang, und hier, wie dort, verliert er sich zuweilen in das Platte.”
1791 Friedrich Schiller [Recension über Bürger's Gedichte] “Unmöglich kann der gebildete Mann Erquickung für Geist und Herz bey einem unreifen Jüngling suchen, unmöglich in Gedichten die Vorurtheile, die gemeinen Sitten, die Geistesleerheit wieder finden wollen, die ihn im wirklichen Leben verscheuchen. [...] Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität. Diese muß es also werth seyn, vor Welt und Nachwelt ausgestellt zu werden. Diese seine Individualität so sehr als möglich zu veredeln, zur reinsten herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern, ist sein erstes und wichtigstes Geschäft, ehe er es unternehmen darf, die Vortreflichen zu rühren. [...] Kein noch so großes Talent kann dem einzelnen Kunstwerk verleihen, was dem Schöpfer desselben gebricht, und Mängel, die aus dieser Quelle entspringen, kann selbst die Feile nicht wegnehmen. [...] Und hier müssen wir gestehen, daß uns die Bürgerischen Gedichte noch sehr viel zu wünschen übrig gelassen haben, daß wir in dem größten Theil derselben den milden, sich immer gleichen, immer hellen, männlichen Geist vermissen, der, eingeweiht in die Mysterien des Schönen, Edeln und Wahren, zu dem Volke bildend herniedersteigt, aber auch in der vertrautsten Gemeinschaft mit demselben nie seine himmlische Abkunft verläugnet. Hr. B. vermischt sich nicht selten, mit dem Volk, zu dem er sich nur herablassen sollte, und anstatt es scherzend und spielend zu sich hinaufzuziehen, gefällt es ihm oft, sich ihm gleich zu machen. [...] Eine der ersten Erfodernisse des Dichters ist Idealisirung, Veredlung, ohne welche er aufhört, seinen Namen zu verdienen. [...] Es konnte uns eben darum auch nicht sehr angenehm überraschen, als wir in dieser Gedichtsammlung, einem Unternehmen reiferer Jahre, sowohl ganze Gedichte, als einzelne Stellen und Ausdrücke wieder fanden, (das Klinglingling, Hopp hopp hopp, Huhu, Sasa, Trallyrum larum, u. dgl. m. nicht zu vergessen,) welche nur die poetische Kindheit ihres Verfassers entschuldigen, und der zweydeutige Beyfall des großen Haufens so lange durchbringen konnte. [...] Gerne gestehen wir, daß wir das ganze Heer von unsern jetzt lebenden Dichtern, die mit Hn. B. um den lyrischen Lorbeerkranz ringen, gerade so tief unter ihm erblicken, als er unsrer Meynung nach, selbst unter dem höchsten Schönen geblieben ist.”
1791 Friedrich Schiller [Vertheidigung des Recensenten] “Dieses Publikum, welches sich seines Wieland's, Goethe's, Geßner's, Lessing's erinnert, dürfte schwerlich zu überreden seyn, daß die Reife und Ausbildung, welche Recensent von einem vortrefflichen Dichter fordert, die Schranken der Menschheit übersteige. Leser, welche sich der gefühlvollen Lieder eines Denis, Göckingk, Hölty, Kleist, Klopstock, v. Salis erinnern, welche einsehen, daß Empfindungen dadurch allein, daß sie sich zum allgemeinen Charakter der Menschheit erheben, einer allgemeinen Mittheilung fähig - und dadurch allein, daß sie jeden fremdartigen Zusatz ablegen, mit den Gesetzen der Sittlichkeit sich in Uebereinstimmung setzen und gleichsam aus dem Schooße veredelter Menschheit hervorströmen, zu schönen Naturtönen werden (denn rührende Naturtöne entrinnen auch dem gequälten Verbrecher, ohne hoffentlich auf Schönheit Anspruch zu machen), solche Leser dürften nun schwerlich dahin zu bringen seyn, idealisirte Empfindungen, wie Recensent sie der Kürze halber nennt, für nichtige Fantome oder gar mit erkünstelten, naturwidrigen Abstrakten für einerlei zu halten. [...] Hrn. Bürger's Sache wäre es gewesen, die Anwendung der vom Recensenten aufgestellten Grundsätze auf seine Gedichte, nicht aber auf Grundsätze selbst zu bestreiten, die er im Ernst nicht wohl läugnen, nicht mißverstehen kann, ohne Begriffe von der Kunst verdächtig zu machen. Wenn er sich gegen diese Forderungen so lebhaft wehrt, bestärkt oder erweckt er den Verdacht, daß er seine Gedichte wirklich nicht dagegen zu retten hoffe.”
1791 Friedrich von Hardenberg (Novalis) “Bey Gelegenheit der Lektüre des Don Karlos habe ich noch einmal die Rezension von Bürgers Gedichten gelesen und sie ist mir beynah in der Stimmung, worein Sie mich versezt hatten, noch zu gelind vorgekommen; Da wenigstens der Maaßstab, den Sie darinn nicht, wie viele gethan haben, von der Erfahrung mehrerer Jahrhunderte abstrahirten, sondern ihn apriori aus einem den Gesetzen der Sittlichkeit correspondirenden Gesetze aufstellten und dadurch der Wissenschaft zu einem einzigen Gesichtspunkt verhalfen, der ihr bis dahin mangelte, ihr eine Anwendung und Grenze zeigten, wodurch unfehlbar alles dazu nicht gehörende und falsch angemaßte getrennt und ihr ein Ziel gesezt wird, das im innersten Heiligthume der Schönheit und Wahrheit steht und unendliche Sonnenwege dem forschenden Auge des Genius eröffnet, und dadurch so viel für sie thaten, wie Prometheus der Lichträuber, für die Sterblichen, da wenigstens der Maaßstab, sag ich, sich zu den meisten von Bürgers Gedichten nicht harmonisch verhält. O! ich lerne immer mehr einsehn, daß nur moralische Schönheit, je absichtsloser sie bewürkt zu seyn scheint, den einzig unabhängig, wahren Werth eines jedweden Werks des dichterischen Genies ausmacht: daß nur sie denselben den Stempel der Unsterblichkeit aufdrücken kann und sie mit dem Siegel der Klassizitaet bezeichnet.”
1793 Johann Christian Giesecke “Wer ließt den größten Theil seiner Gedichte, deren ich einige hieher setze, nicht mit Vergnügen? empfehlen sie sich nicht, im ganzen genommen, durch eine klare, natürliche Sprache, welche sich gleich weit vom Erhabenen und Prosaischen entfernt? ist nicht Reichhaltigkeit der Ideen, sind nicht charakteristische Schilderungen, treffende und bedeutende Züge, gewählte und vielsagende Bilder die Zierde seiner meisten Gedichte? Weis er uns nicht alles so anschaulich darzustellen? die interreßantesten Erwartungen zu erregen? den Aufschluß glücklich zu wenden? kann man nicht aus manchem seiner Gedichte lernen, was poetischer Rhytmus und Fülle sey? und machen diese mannigfaltigen Schönheiten nicht die Fehler verzeihlich, welche der denkende und gebildete Leser hier oder dort nicht übersehen kann?”
1795 Johann Georg Heinzmann “Mir schaudert, wenn ich eine Tochter mit einem Romane in der Hand erblicke - da sie arbeiten sollte. Die ihre besten Stunden des Tages mit der Leseläden Lektüre tödtet; die zwecklos alles liest, was nur immer modisch-neues erscheint, die damit buhlt, und in ihrem Herzen mehr als einmal die Schamhaftigkeit tödtet, und die sittlichen Gefühle alle zum Schweigen bringt; die sich nach und nach gewöhnt, Wohlgefallen an den recht schmutzigen Schilderungen zu finden; die einen Bürger, einen Musenalmanachsdichter mit geiler Lust auswendig lernt, und laut hersagt, was ein gesittetes Frauenzimmer ehemals weder hören noch lesen wollte. - Auch geschieht es ganz gewöhnlich nun heut zu Tage, daß die Männer, die solche Weibchen heyrathen, Hörnerträger werden, wie es so manchem Schriftsteller schon selbst geschehen ist . - Wenn er nun in Praxi an seiner Gattin übergehen siehet, was er so unschädlich im Buchstaben glaubte!”
1798 Johann Gottfried Herder [Rezension Althofs Bürger-Biographie] “Traurige Nachrichten, vom Arzt und Freunde des Dichters treu, aber schonend gegeben. Jeder studirende Jüngling lese sie als Warnung [!]. Er siehet hier einen Mann von edlen Anlagen des Geistes und Herzens nicht nur nicht werden, was er seyn konnte, sondern sieht auch die Ursachen, warum er's nicht ward, auf eine schreckhafte Weise. Auch in dem feinsten Vergnügen gibt es ein Uebermaß, das, wenn die Seele sich dazu gewöhnt, A u s s c h w e i f u n g (débauche) wird. Es entwöhnt von Berufsgeschäften, von Ausdaurung bei mühsamen oder ungefälligen Arbeiten; es macht zuerst leichtsinnig, dann oberflächlich und gegen sich selbst gelinde, zuletzt matt und über sich selbst verzagend. Wer seine Kräfte nicht fortwährend auch an den ungefälligsten Arbeiten, sobald sie uns Pflicht sind, üben lernte, ward nie Meister über sich selbst, genießt also auch nie die edelste Gewißheit, sich selbst gebieten zu können und geht, wenn ihn das Glück nicht außerordentlich anlacht, mit dem besten Gemüth, mit den schönsten Anlagen drohenden Gefahren entgegen. Bürgers Lebensgang zeigt dieses Schritt für Schritt. Er lernte vieles, nur nicht sich selbst bezwingen, anhaltend ausdauern, Maß und Zweck seiner Bestimmung kennen; er ward also nie sein selbst mächtig. [...] Bürgers Leben ist in seinen Gedichten; diese blühen als Blumen auf seinem Grabe; weiter bedarf er, dem in seinem Leben Brod versagt ward, keines steinernen Denkmals. Möge eine freundschaftliche Hand Bürgers Gedichten die Flecken nehmen, die zuweilen in den besten Stellen eben aus seinen Lebensumständen ihnen wie angeflogen sind, daß eine Ausgabe solcher gewählten Stücke zum bleibenden Ruhm des Dichters veranstaltet werde. Wer könnte dieß zarter und besser thun, als Bürgers Freund, Boje?”
1800 Christian Friedrich Rudolf Vetterlein “Trotz allem, was die Kritiker mit Recht und Unrecht gegen diese Lieder [Bürgers] eingewandt haben, hat sie doch das lesende und singende Publikum seit ihrer Erscheinung in Schutz genommen; der wahre Volkston, die treffenden Selengemälde, die sie aufstellen, das warme Lob der Tugend und Unschuld, das sie enthalten, erwarben ihnen diesen Beifall, und manches wird vielleicht noch lange Volkslied, in edlerm Sinne des Wortes, bleiben.”
1802 Christian Gotthilf Salzmann “Mehrere seiner zarten und süßen Lieder auf Molly spielen Lust und Schmerz in das Herz, aber beydes oft zu stürmisch und zu laut; eben dieser wilde Sturm, dieses Uebermaß von Leidenschaft und diese Ueberladung von Bildern machen sein hohes Lied auf Molly, welches er eine Zeitlang partheyisch genug allen seinen Gesängen, selbst der Lenore, vorzog, zu einem bloßen rhetorischen Prachtstück.”
1805 Friedrich Bouterwek “Am wenigsten war Schiller als Aesthetiker zum Recensenten fremder Kunstwerke berufen. Nicht einmal über sich selbst konnte er, wie seine Briefe über seinen eigenen Don Carlos beweisen, ohne täuschende Spitzfindigkeit räsonniren. Denn seine kritische Argumentation ging fast immer nur von einem interessanten Einfalle aus, den er an einem Gegenstande erprobte, indem er den Gegenstand zwang, sich nach dem Einfalle zu bequemen. Fremde Kunstwerke mass er noch dazu mit dem Maasstabe seiner eigenen Poesie. In der auffallenden Einseitigkeit, mit der er Bürgers Gedichte recensirt hat, erkennt man, bey aller Würde und philosophischer Vorbereitung, mit der diese Recension auftritt, nicht den liberalen Geist, der alles Verdienst, sey es auch dem seinigen noch so unähnlich, mit Wärme umfasst, und der vollends nie ungerecht wird zu Gunsten eines Einfalls. Schiller wollte Bürger's poetisches Verdienst ganz unbefangen würdigen. Aber es misslang ihm, weil er seine Idealpoesie der Bürgerischen Naturpoesie zum stätigen Muster vorhielt.”
1805 Samuel Baur “Giebt es irgend eine Dichtart, die noch jetzt ähnliche Wirkungen auf das Gefühl und die Gesinnungen der Menschen hervorbringen kann, wie sie die ursprüngliche Poesie, als sie noch keine Schriftstellerei, sondern lauter lebendiger Vortrag war, so mächtig und sichtbar hervorbrachte; so ist es die populäre Liedergattung. Und besaß irgend einer von unsern Dichtern das Talent, so zu wirken, in seinem ganzen Umfange, so war es Bürger, der Sohn des Pfarrers zu Wolmerswende:”
1810 Arnold Hermann Ludwig Heeren “Nicht darnach wird der Werth einer Literatur gemessen, wenigstens nicht unbedingt gemessen werden können, wie sie der andern Nation gefällt; sondern vielmehr darnach, wie sie für ihre eigene Natur paßt. Als Bürger's Lenore erschien, wußte man sie auch auswendig von der Elbe bis zur Donau. Darum war sie vortrefflich, und hätten alle Kritiker der Welt das Gegentheil demonstrirt.”
1809 Conversations-Lexikon oder kurzgefaßtes Handwörterbuch, Amsterdam. “Wenige Dichter haben das Glück, so allgemein gelesen zu werden, als dieser Lieblingsdichter unsrer Nation. Auch ist nicht nur der Stoff seiner Gedichte der allgemeinen Empfindungsart so angemessen, sondern auch der Ton derselben der lebendigen Mundsprache so entnommen, da es ihm unmöglich fehlen konnte, unter allen Classen von Lesern Freunde zu gewinnen. Und wiewohl man mit Grund befürchten muß, daß man, indem man ihm den Namen eines Volksdichters beigelegt, vorzüglich an diejenigen Eigenschaften seiner Werke gedacht habe, welche denselben sogleich auch bei den weniger gebildeten Ständen Eingang verschaffen, so würde man doch sehr irren, wenn man glauben wollte, da er das feinere Gefühl beleidige und für die gebildeten Stände weniger genießbar wäre, wenn er auch das Ideal des Dichters, welches der Recensent seiner Gedichte in der Jenaischen A. L. Z. vielleicht selbst idealisch, entwirft, nicht erreicht haben sollte.”
1812 Franz Horn “Von den Gedichten an Molly, besonders aber von dem: ´Als Molly sich losreißen wollte,’ mögen wir nichts weiter sagen, als daß wir uns von ihnen beinah dieselben Wirkungen versprechen dürfen, als von Tamino´s Zauberflöte. Vielleicht noch größere, da bekanntlich die meisten Thiere, die sonst nützlichen Hunde abgerechnet, sich ohnehin ziemlich musikalisch erweisen. Der größte Fehler, den Bürger jemals beging, war, daß er auch scherzen wollte, welches ihm, wenigstens in gedruckten Schriften, niemals geglückt ist. Daß übrigens einige rohe Schriftsteller und Nicht-Schriftsteller ihn im Allgemeinen für ein wenig roh erklärt haben, muß der Literaturhistoriker leider mit anführen; sonst ist es freilich am besten, sich an dergleichen Unziemlichkeiten nicht zu erinnern.”
1830 Johann Wolfgang von Goethe “Daß Bürger's Talent wieder zur Sprache kommt, wundert mich nicht. Es war ein entschiedenes deutsches Talent, aber ohne Grund und ohne Geschmack, so platt wie sein Publikum. Ich habe gewiß, als junger Enthusiast, zu seinem Gelingen vor der Welt viel beigetragen, zulezt aber war mir's doch gräßlich zu Muthe, wenn eine wohlerzogene Hofdame, im galantesten Négligé, die Frau Fips oder Faps [Schnips], wie sie heißt, mit Entzücken vordeklamirte. Es ward bedenklich, den Hof, den man ihr zu machen angefangen hatte, weiter fortzusehen, wenn sie auch übrigens ganz reizend und appetitlich aussah. Schiller hielt ihm freilich den ideal-geschliffenen Spiegel schroff entgegen und in diesem Sinne kann man sich Bürgers annehmen; indessen konnte Schiller dergleichen Gemeinheiten unmöglich neben sich leiden, da er etwas anderes wollte, was er auch erreicht hat. Bürger's Talent anzuerkennen, kostete mich nichts. Es war immer zu seiner Zeit bedeutend. Auch gilt das Aechte, Wahre daran noch immer, und wird in der Geschichte der deutschen Literatur mit Ehren genannt werden.”
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1835 August Wilhelm von Schlegel “Wie kam gerade Schiller dazu, über einige in Bürgers Gedichten stehen gebliebene gesunde Derbheiten wie ein Rhadamantus zu Gericht zu sitzen? Der Verfasser der Räuber, in dessen früheren Gedichten und Dramen so manche Züge jedes zarte Gefühl verletzen, mußte wissen, wie leicht genialischer Übermuth zu wilden Ausschweifungen fortreißt. Oder war es gerade das Bewußtseyn dieser neuerdings mit ihm selbst vorgegangenen Verwandlung, was ihn so unerbittlich strenge machte? Und hatte er denn wirklich die alte Haut so vollständig abgestreift, als er damals glaubte? Überdies hat Schiller durch diese Beurtheilung nur eine schwache Probe seiner Kennerschaft gegeben. Er hätte Bürgern nicht tadeln sollen, weil er ihn nicht gehörig zu loben verstand. Wie er das Wesen der Gattung, worin Bürger wenigstens zuweilen ein vollendeter Meister war, begriffen hatte, das zeigen die Balladen, die er später, wetteifernd mit Goethe, aber gegen den Willen der Minerva dichtete. Es hat hiebei eine Nemesis gewaltet, und Bürgern ist, zwar erst nach seinem Tode, die vollständigste Genugthuung zu Theil geworden, indem nun die Vergleichung zwischen der Lenore, dem wilden Jäger, der Tochter des Pfarrers zu Taubenhain, den Weibern von Weinsberg, und dem Fridolin, dem Taucher, dem Ritter von Rhodus u.s.w. angestellt werden kann.”
1837 Johann Wolfgang von Goethe [Gespräche mit Eckermann] “Nach solchen Äußerungen über die Einflüsse bedeutender Personen auf ihn kam das Gespräch auf die Wirkungen, die er auf Andere gehabt, und ich erwähnte Bürger, bey welchem es mir problematisch erscheine, daß bey ihm, als einem reinen Naturtalent, gar keine Spur einer Einwirkung von Goethe's Seite wahrzunehmen. ´Bürger, sagte Goethe, hatte zu mir wohl eine Verwandtschaft als Talent, allein der Baum seiner sittlichen Cultur wurzelte in einem ganz anderen Boden und hatte eine ganz andere Richtung. Und jeder geht in der aufsteigenden Linie seiner Ausbildung fort, so wie er angefangen. Ein Mann aber, der in seinem dreyßigsten Jahre ein Gedicht wie die Frau Schnips schreiben konnte, mußte wohl in einer Bahn gehen, die von der meinigen ein wenig ablag. Auch hatte er durch sein bedeutendes Talent sich ein Publicum gewonnen, dem er völlig genügte, und er hatte daher keine Ursache, sich nach den Eigenschaften eines Mitstrebenden umzuthun, der ihn weiter nichts anging.”
1839 Conversations-Lexicon Band 2 “War gleich B.´s moralischer Charakter nicht ganz fleckenlos, so sank er doch nie zur Gemeinheit herab. Güte des Herzens, Anspruchslosigkeit, Rechtlichkeit wiegen seine Fehler, welche er ohnehin bitter genug entgelten mußte, bei weitem auf. - Seine Gedichte leben größtentheils in dem Munde des deutschen Volkes und werden so lange darin leben, als Wahrheit und Natürlichkeit der Empfindungen nicht von ihm gewichen sind. Am höchsten stehen B.´s Romanzen; mimische Lebendigkeit und Fülle der Gedanken zeichnen sie durchgehend aus. Das eifrige Studium altenglischer Balladen hatte ihm in dieser Gattung den wahren Weg gezeigt. Seine ‘Leonore’ wäre allein hinreichend, ihm die Unsterblichkeit zu sichern. Auch im Liede, in der Ode, Elegie, poetischen Erzählung und im Epigramme versuchte sich B. mit dem größten Glücke. An Pracht und Fülle der Sprache kommt ihm kein Dichter seiner Zeit gleich. Das Sonett ward von ihm wieder zu Ehren gebracht und es gelang ihm meisterhaft; nur in scherzenden Gedichten war er unglücklich und er fiel zu leicht ins Derbe und Rohe, was freilich auch, wenigstens größten Theils, seinen individuellen stets ungünstigen Verhältnissen und dem genial sein sollenden Streben seiner Zeit angerechnet werden muß. Schiller faßte diese Schattenseite seiner Gedichte allzustreng auf und sprach ihm geradezu die Kunst zu idealisiren ab;[...].”
1853 Georg Gottfried Gervinus “So erscheint denn Bürger als ein pathologischer und kritischer Dichter zugleich, als Natur- und Kunstpoet, als Volks- und Minnesänger, wie sein Landsmann Gleim, aus nordischer und südlicher Schule zugleich, beherrscht von Empfindungen und von Ueberlegungen; die Naturwahrheiten seiner Gemälde scheinen uns nachlässig mit grobem Griffel hingeworfen, und sind, in der Nähe betrachtet, wie so viele niederländische Bilder, mit dem feinsten Pinsel ausgemalt. Das Ungleiche der Behandlung, der Streit von Kunst und Natur, von Allgemeinheit und Besonderheit, von Begabtheit und leichtfertiger Benutzung des Talentes, von Poesieglanz und Plattheit fiel Schiller´n in unserem Volkssänger, auf der an Homer emporsah und die Frau Schnips besang, der unter das höchste Maß der Kunst gehalten zu werden verdiente und sich selbst so oft herabwürdigte, der eine Volksthümlichkeit in jenem höchsten Sinne anstrebte, nach dem er mit der Größe seiner Kunst die Kluft zwischen den gebildeten Ständen und dem Volke auszufüllen hoffte, und dabei sich mit dem Volke vermischte, zu dem er sich herablassen sollte.”
1853 Tinette Homberg “Er ward als Dichter von seiner Zeit enthusiastisch verehrt; seine Balladen und erzählenden Gedichte wurden als das Höchste in dieser Art gepriesen. Auf den ersten Blick scheint dies Lob verdient; wenn man aber näher hinblickt, so findet man darin neben einander liegen: das Hohe und Gemeine, das Innigempfundene und das Frivole, den Ernst der Idee und den Leichtsinn des oberflächlichen Witzes, die Wahrheit der Natur und gesuchte Künstlichkeit, Lebendigkeit und Frische in der Komposition und dabei matte, zersplitternde Ausführung im Einzelnen, ohne organischen Zusammenhang; dazu kommt noch ein buntes Gemisch von Tugendbegeisterung und Lust an der Sünde, von Geschmack und Geschmacklosigkeit. Genug, in seinen Gedichten steht der ganze Bürger vor uns. Statt wahrhaft zu idealisiren (d.h. das Endliche, Vergängliche auf das Unendliche, Unvergängliche, was den Dingen innewohnt, zu richten) bringt er vielmehr eine Menge Formen, Farben, Bilder zusammen, die wohl durch einen gewissen Schimmer blenden, aber den feinern, ästhetischen Sinn nicht befriedigen. So hat er auch das Volkslied nur in seiner Entartung, wo es trivial und weitschweifig ist, aufgefaßt; die viel gepriesene Lenore gibt den Beweis davon!”
1856 Carl Leo Cholevius “Solche Mordgeschichten wie Des Pfarrers Tochter zu Taubenhain sind blos geschmacklos, aber die schmuzigen Erzählungen Veit Ehrenhold und Die Königin von Golkonda, ferner die freche Frau Schnips, gegen welche der alte naive Volksschwank von Hans Pfriem ein wahrer Juwel ist, sind ein moralischer Flecken, und ihnen gleichen Bacchus, Fortunens Pranger, Der Raub der Europa, Die Menagerie der Götter. Dies Alles steht mit Wieland´s auflösender Ironie und Lüsternheit in Verbindung und erinnert an seine Griechischen Erzählungen. Welchen anderen Gebrauch verstand Schiller in seinen Balladen von der antiken Sage zu machen!”
1857 Joseph von Eichendorff “Nur Bürger blieb sein Leben lang ein Student: unordentlich im Leben, Lieben und Dichten, bald hinter dem Schreibtisch fleißig den Homer übersetzend, bald als stattlicher Ritter mit seinem ‘Karl von Eichenhorst’ hoch auf dem Dänenroß, bald wieder sein Bündel schnürend und auf lustiger Wanderschaft in den Kneipen seines ‘Dörfchens’ oder bei ‘Frau Schnips’ einkehrend. Bürger war ein echter Sangesmund, der melodische Klang war ihm eingeboren und hat z. B. in seiner unsterblichen ‘Lenore’ Wunder gethan. Das machte ihn so populär vor allen seinen Zeitgenossen, daß er Lust und Schmerz, den Dämon und den Engel in der eigenen Brust, überall sich selber ganz und unverhohlen gab. Aber seine Popularität hat eben deshalb häufig etwas Renommistisches, Forcirtes, ja widrig Gemeines. Denn ihm fehlte zum Volksdichter, wonach er strebte, nichts als die sittliche Haltung und Würde, deren Mangel sich aber unter dem leichten durchsichtigen Gewande des Volksliedes nicht wie in der vornehmen Gelehrtenpoesie mit verschnörkelter Rhetorik verhüllen oder gar verschönern läßt.”
1857 Herders Conversations-Lexikon “geb. 1. Jan. 1748 zu Wolmerswende bei Halberstadt,[...] Zu diesen Bedrängnissen kam eine Recension von Schiller, die B. und seine Gedichte heruntersetzte (Göthe behandelte B. mit vornehmer Sprödigkeit) u. tief kränkte; der willkommene Tod erlöste ihn den 8. Juli 1794. B.s Leben unterliegt allerdings schwerem u. gerechtem Tadel und hat den Dichter durch Leiden genug gestraft; nichtsdestoweniger ist er einer der ersten deutschen Dichter, namentlich durch seine Balladen, von denen einige in das Volksleben übergegangen sind; auch von seinen Liedern nehmen mehrere einen Ehrenplatz in der deutschen Poesie ein. Von B.s Humor zeugen ´die wunderbaren Abenteuer u. Reisen des Freiherrn von Münchhausen´.”
1859 Julian Schmidt “Wenn Fiesco, als er sein Weib umgebracht, ´viehisch um sich haut´ und ‘mit frechem Zähneblöken gen Himmel’ den Wunsch ausspricht, ‘den Weltbau Gottes zwischen den Zähnen zu haben und die ganze Natur in ein grinsendes Scheusal zu zerkratzen; bis sie aussehe, wie sein Schmerz;’ - wenn Verrina ‘bei allen Schaudern der Ewigkeit’ ihm zuschwört, ‘einen Strick wolle er drehen aus seinen eigenen Gedärmen und sich erdrosseln, daß seine fliehende Seele in gichtrischen Schaumblasen ihm zuspritzen solle’: - so empfindet man wohl, daß jene bittere Anklage gegen Bürger zugleich ein reuiges Bekenntniß [Friedrich Schillers] enthält.”
1860 Neues Conversations-Lexikon. Staats- und Gesellschafts-Lexikon. “Und so finden wir denn auch bei B. eine große Vorliebe zu glühendem Colorit, eine Behandlung der Sprache, eine malerische und vollendete Anmuth der Darstellung, die an und für sich hinreißend ist. [...] Seine ‘Lenore’ [...] hätte allein gereicht, dem Dichter, wie A.W. Schlegel sagt, Unsterblichkeit zu sichern. Außerdem lassen andere erzählende Gedichte, wie ‘Das Lied vom braven Manne; der wilde Jäger; Robert; das Lied von der Treue; der Kaiser und der Abt; Schön Suschen“, die große dichterische Begabung nicht verkennen; ja, sie sind Meisterstücke ihrer Art. In seinen rein lyrischen Gedichten finden sich zwar ebenfalls böse Auswüchse, hervorgegangen aus dem einseitigen Begriff von ‘volksmäßig’; in den Liebesgedichten sind meistens individuelle Empfindungen und die ganze Stärke aufgeregter Leidenschaft das vorwiegende Moment, und die innig scheinenden Lieder gewinnen ein ganz anderes Licht, wenn man an sein unsittliches Verhältniß denkt. Einige (‘Neues Leben; die Holde, die ich meine; Minnesold’) aber zeichnen sich durch Innigkeit und Tiefe der Empfindung aus, die wir auch in den lyrischen Gedichten antreffen, in welchen er andere Stoffe, die er vollkommen beherrscht, poetisch gestaltet (‘das Dörfchen; Auch ein Lied an den lieben Mond; an die Hoffnung; Blümchen Wunderhold’). Von einer ganz besonderen Schönheit sind seine Sonette, welche, seit Flemming nicht gepflegt, er wieder in die deutsche Literatur eingeführt hat; sie gehören zu den vortrefflichsten, welche überhaupt gedichtet worden sind (‘an das Herz’). Schiller sagt von ihnen, die theils in Jamben, theils in Trochäen gedichtet sind, sie seien Muster ihrer Art, die sich auf den Lippen des Declamators in Gesang verwandeln.”
1864 Hermann F. Kahle “Wer mit demjenigen aus dem Bereich der Poesie bekannt werden will, was dem Volke gefällt, der muß Bürgers Gedichte lesen; denn keines deutschen Dichters Werke mögen in dem Umfange und mit der Begier vom Volke auswendig gelernt worden sein, als die Bürgerschen; was dem Volke frommt, das läßt sich aus ihnen freilich leider nicht lernen; in dieser Beziehung steht Claudius unendlich höher; denn man kann dem Volke den ganzen Claudius geben und wird ihn ihm geben und erhalten müssen; wo immer man auf dessen Veredlung sein Augenmerk richtet; aber die Bürgersche Muse liefert hierzu gar wenig Beiträge; vielfach sind Bürgers Gedichte ein nur zu treues Abbild seiner verunsittlichten Persönlichkeit.”
1864 Arthur Schopenhauer “Mit welchem Fug und Recht maaßen sich die Zeitungsschreiber und Journalisten einer litterarisch heruntergekommenen Periode an, die Sprache zu reformiren? Sie thun es aber nach dem Maaßstabe ihrer Unwissenheit, Urtheilslosigkeit und Gemeinheit. Aber Gelehrte und Professoren, die ihre Verbesserungen annehmen, stellen sich damit ein Diplom der Unwissenheit und Gemeinheit aus. — Wer ist denn dieses Zeitalter, daß es an der Sprache meistern und ändern dürfte? — was hat es hervorgebracht, solche Anmaaßung zu begründen? Grosse Philosophen, — wie Hegel; und grosse Dichter, wie Herrn Uhland, dessen schlechte Balladen zur Schande des deutschen Geschmacks 30 Auflagen erlebt haben und 100 Leser haben gegen Einen, der Bürgers unsterbliche Balladen wirklich kennt. Danach messe man die Nation und das Jahrhundert, danach. [...] Sie setzen Leuten Monumente, aus denen einst die Nachwelt gar nicht wissen wird, was sie machen soll. - Aber Bürgern setzen sie keines.”
1869 Julius Tittmann “Den Vorwurf Schiller´s, daß in Bürger´s lyrischen Gedichten die von ihren Schlacken nicht befreite Individualität des Verfassers hervortrete, haben wir noch zu erweitern: die volksthümliche Dichtung soll das subjektive Wesen überall nicht verrathen, der Dichter eines ´Volksliedes´ tritt so sehr zurück, daß nicht einmal sein Name aufbewahrt bleibt. Die ´Popularität´ der bessern lyrischen Gedichte Bürger´s liegt eben im demjenigen, was Schiller vermißte, im Mangel idealisirter Empfindungen; in ihnen spricht das rein Menschliche derselben mit seinen Fehlern, Schwächen und Verirrungen, dem Erbtheil aller Sterblichen, allgemein an, da es an eigene innere Erlebnisse anklingt. Die Erhebung, welche nur durch die reine Darstellung des Schönen erreicht wird, werden sie nimmermehr weder dem Geiste noch dem Herzen bringen. Bürger´s Leben entbehrt aller wirklich poetischen Conflicte, sein Geschick war nicht tragisch, sondern beklagenswerth. Auch in der Liebe zu Molly liegt kein tragisches Moment; die subjective Willkür hatte über den geregelten Gang des bürgerlichen Lebens gesiegt, Bürger genoß ohne Kampf, und nur das allgemeine Menschengeschick raubte ihm diesen Genuß.”
1870 Klotilde von der Horst “Er wird daher für die Literaturgeschichte stets wichtig bleiben, sowohl durch den Einfluß, den er mit seinen volksmäßigen Dichtungen auf Andere übte, als auch durch diese Dichtungen selbst, die, namentlich die Balladen und Sonette, zu dem Bedeutendsten gehören, was die deutsche Poesie aufzuweisen hat. Erstere, einzelne weniger gelungene ausgenommen, sind bis jetzt an Klang und Wohllaut noch nicht, nicht einmal von Schiller, an wahrer Volksmäßigkeit der Behandlung und des Ausdrucks nur von Goethe übertroffen. Aber wenn auch Bürger ein Dichter in der eigentlichen Bedeutung des Wortes ist, so weht doch in seinen Poesien, auch den gelungensten, von den in´s Frivole und Lüsterne fallenden gar nicht zu reden, etwas, was unangenehm berührt, ein Hauch des Unedlen, um es gelinde auszudrücken. Das schöne Wort, welches Goethe über Schiller sagte: Und hinter ihm, in wesenlosem Scheine, Lag, was uns alle bändigt, das Gemeine könnte man auf Bürger umgekehrt anwenden, ihn beherrschte das Gemeine mehr wie Andere. Dies Unedle in seinen Dichtungen lag ebensowohl in seinen Charaktereigenschaften, die unläugbar neben der größten Biederkeit und Herzensgüte, Leichtsinn und Sinnlichkeit waren, als auch in seiner einseitigen Auffassung der Herder´schen Ideen über Volkspoesie. Herder sagt ganz richtig, daß keine Poesie echt und innerlich gesund sei, die nicht aus dem Leben und dem Ideenkreise des Volkes hervorgegangen ist, aber der Volksdichter soll nicht, wie Bürger diesen Ausspruch auffaßte und in manchen seiner Poesien verwirklichte, nur für die Fassungskraft der Masse des Volkes schreiben, sondern den Abstand, der nach und nach durch Kenntnisse und Cultur zwischen den Gebildeten und dem Volke entstanden ist, durch seine Kunst aufheben, und ebensowohl für den gebildeten Geschmack des Kenners, wie für den natürlichen des Volkes schreiben. Eine der schwierigsten Aufgaben der Poesie, die zu jeder Zeit nur dem größten Genius zu lösen gelingen wird.”
1871 Meyers Hand-Lexikon. Erste Hälfte. “Bürger, Gottfr. Aug., Dichter, geb. 1. Jan. 1748 zu Molmerswende bei Harzgerode, Sohn eines Predigers, seit dem 11. Jahre von seinem Grossvater, dem Hofesherrn Bauer in Aschersleben, erzogen, studirte auf des letztern Wunsch in Halle Theologie, wandte sich dann dem Studium der Rechte und den schönen Wissenschaften zu, seit 1768 in Göttingen, wo er später mit den Dichtern des göttinger Bundes bekannt wurde. Hier, wie schon in Halle, führte er ein wüstes Leben, von dem er sich nicht mehr dauernd frei machen konnte; ward 1772 durch Boies Einfluss Justizamtmann in Altengleichen, schloss 1774 eine unglückliche Ehe, da er eigentlich die Schwester seiner Frau (Molly) liebte, gab 1789 seine Stelle auf, lebte als Docent an der Universität zu Göttingen, ward 1789 Prof. das., aber ohne Gehalt; fristete sein Leben in Noth und Elend, das durch Schillers Kritik seiner Gedichte (1791) wesentlich gesteigert ward; gest. 8. Juni 1794. Bedeutend durch die volksthümliche Richtung seiner Poesie, namentlich in seinen Balladen (zuerst ´Lenore´ 1774, angeregt von Percys Sammlung altengl. Balladen) und Liedern; die Sonette (die ersten deutschen seit Gottsched) erhielten selbst Schillers Lob. [...] Die ihm zugeschriebenen ´Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen` (1787) sind nicht von ihm.”
1872 Seligmann Heller “In Bürger's Liebesgedichten nehmen jedoch die unsterblichen Molly-Lieder unser Hauptinteresse in Anspruch. Keine Nation der Welt, nicht die feurigen Italiener, nicht die leicht- und heissblütigen Franzosen, haben etwas aufzuweisen, was nur im Entferntesten mit diesen kostbaren Perlen deutscher Lyrik zu vergleichen wäre. Die Thränen des grossen Dichters mögen oft auf das Blatt gefallen sein, auf welches er seine Sehnsucht, sein unaussprechliches Glück und Elend, seine Wonne und seine Verzweiflung mit zitternder Hand und in so brennenden Farben malte. Diese Liebe war nach Gesetz und Herkommen eine verbrecherische, er und sie wehrten sich Anfangs dagegen; aber sie war bestimmt, ihm die Dichterkrone, wie in Höllenflammen glühend, aufs Haupt zu drücken, wenn sie auch für kleine Seelen ihm ein unauslöschliches Brandmal auf der Stirne zurückliess. Was sind das für Töne! welche Wahrheit, welche Kraft! In dieser Weise hat die Poesie noch nie das innerste Verlangen ausgesprochen, wird sie es nicht weiter aussprechen. Das erste Aufflackern dieser Leidenschaft, das beiderseitige Widerstreben, das Verzehrende dieses Kampfes, das Sichwiederfinden dieser Liebenden, ihre Seligkeit, Molly's Werth, Molly's Schönheit und Treue, das süsse Kosen, ihre plötzliche Reue, wie sie sich losreissen will, ein Aufschrei seiner ganzen Natur in den Accenten der tiefsten Tragik, ihr Wiederkommen, neue entzückende Lust, ihre Vermählung, wo in hochherrlichen Hymnen der Dichter den Lorbeer der Vollendung sich selbst um die Schläfe windet, und endlich ihr frühzeitiger Tod, sein dumpfes Herumirren, seine schmerzenvolle Klage, seine Verlassenheit - das sind wahrlich ganz andere Lieder und Reime als die wohlgedrechselten Sonette und Canzonen eines Petrarca oder als Schillers unreife Erotik. Nur in den Liederfragmenten der Sappho begegnen uns ähnliche Accente, und einige wenige Elegien des Tibull athmen etwas von dieser Zartheit und Lieblichkeit. Auch Sonst feiert Bürger in einer Menge der köstlichsten Gedichte die Macht der Liebe, bald tändelnd und schäkernd, bald innig und fröhlich, bald heiss und schmachtend, bald in ruhiger Betrachtung - immer weiss sein unermüdlicher Pinsel uns mit neuen Gestalten und Phantasien zu berücken, immer der Sprache jenen prometheischen Funken einzuhauchen, der vor ihm unserer gesammten Poesie fehlte. Und auch nach Bürger ist ein Gedicht wie Schön Suschen nicht weiter gemacht worden. Eine solche Harmonie in Wort, Wendung und Gedanken, ein so edler und reiner Rhythmus, eine solche Meisterschaft bei solcher kindlicher Einfachheit ist selbst Goethen nur in den seltensten Fällen gelungen, bei Schiller wird man solche Vorzüge vergebens suchen.”
1875 Wilhelm Dilthey “Schiller instruierte förmlich einen Prozeß gegen den Volksdichter Bürger und den Beifall, den er in der Nation gefunden hatte. Er trat den Beweis an, daß Bürger in intellektueller und sittlicher Beziehung unter dem Niveau der gebildeten Klassen stände, an welche seine Gedichte gerichtet seien. [...] Wenn heute der Prozeß noch einmal instruiert werden sollte, so liegt nun für den Punkt, den Schiller ins Auge faßte, die Persönlichkeit, welche hinter den Dichtungen steht, ein umfassendes Beweismaterial für Anklagen und Verteidigungen vor. Es liegt vor in einer unverkürzten und ganz authentischen Gestalt; wenigstens nur an wenigen Stellen ist das Privateste unterdrückt. Wir verdanken diese Vorlage des ganzen Tatbestandes dem unermüdlichen und erfolgreichen Sammelfleiß von Adolf Strodtmann, welcher in vier Bänden die gesamte erreichbare Korrespondenz Bürgers dem Publikum vorgelegt hat. Das Interesse dieser Korrespondenz reicht aber weit hinaus über die Person Bürgers, ein bedeutender Teil jener dichterischen Generation tritt hier höchst anschaulich und in realistischen Zügen vor das Publikum. Ein guter Teil des allgemeinen Urteils von Schiller über diese poetische Gesellschaft kann hier an ihren Personen bemessen werden.”
1875 Adolf Strodtmann “Ein glühender Haß gegen Fürstenwillkür, Adelsübermuth, Archonten-Nepotismus und politische Barberei zieht sich durch den ganzen Briefwechsel Bürger´s und Goeckingk´s, wie er sich auch in ihren Gedichten oft genug Luft macht. Bürger´s Zornlied des Bauers ‘an seinen durchlauchtigen Tyrannen’, dies an Kraft und Kühnheit unübertroffene Vorbild unserer späteren social-politischen Dichtung, entstand lange vor der französischen Revolution. [...] Es versteht sich von selbst, daß Bürger sowohl wie Goeckingk bei ihren demokratischen Gesinnungen den Ausbruch der französischen Revolution mit nicht minderem Jubel begrüßten, als Klopstock.”
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1882 Lexikon der deutschen Nationallitteratur. Leipzig “Seine ´Gedichte´ (zuerst 1778 gesammelt) bildeten den Kern und Stamm seiner sämtlichen Werke und gaben ihm eine bedeutende Stellung in der Entwicklungsgeschichte der deutschen Poesie. B. war einer der ersten Dichter, die in Lied und Ballade unmittelbare Wärme der Empfindung, volle Wirklichkeit des Lebens, höchste Mannigfaltigkeit der Stimmung in sinnlich-kräftigem, fortreißendem Ausdruck und in reizvoller Form und mit melodischem Fluß gaben. Seine vorzüglichen Balladen (namentlich ´Lenore´, ´Der wilde Jäger´, ´Das Lied vom braven Mann´, ´Der Kaiser und der Abt´) und die einfach-schönen Gedichte, welche die Stimmungen seines freilich nicht harmonischen Lebens treu wiedergeben, konnten durch vermeintlich volkstümliche Roheiten, Plattheiten und Geschmacklosigkeiten, die sich in andern Gedichten, ja gelegentlich und vereinzelt sogar in den besten Dichtungen selbst finden, nicht wirkungslos gemacht werden. An der formellen Vollendung der Bürgerschen Gedichte hatten auch die Reflexion und unablässige Übung ihren Anteil; B. gehörte zu den Poeten, bei welchen die Vorstellung künstlerischer Vollendung zuerst wieder Macht gewann. Die verhältnismäßig nicht sehr zahlreichen Gedichte schlossen daher eine Fülle wirklichen innern Lebens, sprachlicher Kraft und poetischer Arbeit in sich ein und lassen in B. den hervorragendsten deutschen Lyriker der vorgoetheschen Epoche unsrer Literatur erkennen.”
1882 Brockhaus’ Conversations-Lexikon, Leipzig “Seine Liebesgedichte, obschon er in ihnen die Liebe nicht in ihren zarten Tiefen und geistigen Elementen erfasste, sind oft hinreißend durch den vollen Klang ihrer Worte und durch ihre sinnliche und leidenschaftliche Glut. Seine Sonette gehören zu den besten, die in deutscher Sprache gedichtet worden sind. Wohl zu beachten ist auch der kräftige Mannessinn, der Haß gegen alles Schlechte, Gemeine, Despotische in manchen seiner Gedichte, wie er auch einer der ersten Deutschen war, welche die exklusive Gelehrsamkeit, den Gelehrtendünkel und die Pedanterie in der Wissenschaft mutig angriffen. Bürger ist als einer der Sprachschöpfer des 18. Jahrhunderts zu betrachten. Nicht nur, dass er ängstlich auf Korrektheit und Wohllaut des Verses hielt, so hat er auch manche fremdländische poetische Formen, wie das Sonett, in Deutschland wieder zu Ehren gebracht.”
1888 Meyers Konversationslexikon “Schiller wirft in seiner Rezension in der ´Allgemeinen Litteraturzeitung´ von 1791 B. vor, daß seine Gedichte keinen reinen Genuß böten, daß ihm durchaus der ideale Begriff von Liebe und Schönheit fehle, daher seine Gedichte zu oft in die Gemeinheit des Volkes hinabsänken, statt dieses zu sich zu erheben, daß überhaupt der Geist, der sich in seinen Gedichten ausspreche, kein gereifter sei, daß seinen Produkten nur deshalb die letzte Hand der Veredelung fehle, weil sie ihm wohl selbst fehle. Dies wenn auch strenge Urteil mag bestehen, wenn man das Gegengewicht der Vorzüge Bürgers gelten läßt. Denn die Wärme seiner Empfindung, die unmittelbaren und ergreifenden Naturtöne der Innerlichkeit, die Weichheit und zugleich die Kraft des Ausdrucks, die Mannigfaltigkeit der Formen, die er beherrschte, werden ihm unter den deutschen Lyrikern immer einen bedeutenden Platz sichern. In der Ballade hat er (einige verfehlte abgerechnet) sehr Hervorragendes geleistet, und der melodische Fluß seiner Lieder ist oft von höchster Schönheit. Seine Übersetzungen sind, wie der Versuch einer Ilias in Jamben und seine Macbeth-Bearbeitung, meistens durch die Anwendung falscher Übersetzungsprinzipien mißlungen.”
1894 Julius Sahr “Ja, das Studium der Muttersprache ist, wo gottbegnadete Priester ihre Lehren verkünden, das geworden, zu dem Bürger es machen wollte: ein Studium der Weisheit im höchsten Wortsinne. Aber daraus dürfen wir leider noch nicht schließen, daß deshalb auch heute jener Gelehrtendünkel und -Hochmut, an dem Bürgers Streben zu Schanden ward, aus allen Köpfen völlig verschwunden sei. [...] Seltsame Empfindungen überkommen uns, wenn wir das überblicken, was Bürger als Lehrer des Deutschen gewollt und geleistet hat. Er war kein Germanist im heutigen Sinne, das ist klar, aber ein Vorläufer der Germanistik war er doch und zwar einer von scharf ausgeprägter Eigenart. Bewundernswert ist, daß er, ein Mann ohne eigentliches geschichtliches Studium unserer Sprache, eine so richtige Ahnung von sprachgeschichtlichen Vorgängen, von der Entwickelung der Sprache hatte, vor allem, daß er den weitern Gang seines Lehrfaches so klar voraussah und vorhersagte. Bürger zeigt hier, ähnlich wie öfters Herder, einen wunderbaren geschichtlichen Spürsinn. Bei ihm wie bei Herder empfinden wir wieder einmal lebhaft, daß Dichter Lieblinge der Götter sind; ihrem ahnungsvollen Geiste offenbart sich mehr als gewöhnlichen Sterblichen; vor ihrem Seherblick lüftet sich der Schleier der Zukunft.”
1894 Paul Schlenther “Bürger, den der stark persönliche Angriff des Ungenannten [Schiller] in trübsten Lebensverhältnissen traf, raffte sich zu einigen schwächlichen Repliken auf und wurde an sich selbst so irre, daß er anfing, in seinen Gedichten nach Schillerschen Rezepten herumzukuriren. Aber einen starken Moment hatte er in diesem Kampfe doch: als er sein Spottgedicht ‘Der Vogel Urselbst’ schrieb, das, obwohl oder weil es gegen Schiller gerichtet ist, noch niemals nach Gebühr gewürdigt wurde. Es ist eine der glücklichsten literarischen Revanchen, die wir besitzen, und zeigt den niedergetretnen Dichter noch einmal aufrecht dastehn in der ganzen Vollendung seiner poetischen Formen und seines selbständigen Geschmacksbewußtseins.”
1894 Theodor Fontane “[...]; ich kann mir nämlich kaum einen ordentlichen Deutschen vorstellen, der nicht Bürger-Schwärmer wäre. Als Balladier steckt er doch den ganzen Rest in die Tasche; der Ruhm Bürger's hat mir immer als ein Ideal vorgeschwebt: ein Gedicht [Lenore] und unsterblich.”
1894 Theodor Fontane “Sehr interessant war auch der Schlußartikel unseres Schlenther über Bürger. Der Artikel hat eine literarhistorische Bedeutung, weil er fixiert, was seit lange in der Luft schwebt: Nationales und Volkstümlichkeit gegen das Schillertum als etwas halb Fremdes. Die Sache war schon öfter da, aber der Ausgangspunkt (Bürger) ist hier neu.”
1896 Leo Berg “Am wenigsten verzeiht und versteht Schiller die gewiss nicht makellose. aber prächtige Liebeslyrik Bürgers, die weder unkeusch noch gemeinsinnlich ist, die schon durch ihren hohen formalen Reiz, ihre blühende Phantasie, ihre männlich-erotische Liebenswürdigkeit und ihren lebendigen fast modernen Empfindungsreichtum über alle Gemeinheit hoch erhaben ist, und die eine fast noch gar nicht begriffene Bedeutung für die Entwicklung der modernen Lyrik gehabt hat. An Rhytmik, Melodik, Intimität der Stimmung und Seelenmalerei und an Feinheit der Technik stehen einzelne Lieder fast unerreicht da und mussten, ehe die Romantiker der deutschen Prosodik ihre Geschmeidigkeit gaben, fast wie eine Offenbarung wirken. Schiller scheint hierfür kein Gefühl gehabt zu haben. Seltsam genug ist es immer und muss gemerkt werden, dass er, der sich in der Rhytmik mit Bürger gar nicht messen durfte, der nie eine so virtuose Behandlung des deutschen Verses heraus hatte wie Bürger, der ja im wild Leidenschaftlich-Dramatischen wie im Lyrisch-Weichen unerreichbar war, ihm sogar unechte Reime, ‘entstellende Bilder’, ‘unnützen Wörterprunk’ und ‘harte Verse’ vorwerfen konnte....”
1898 Edgar Steiger "Rückkehr zur Natur, Bewunderung der alten Griechen, Verehrung Shakespeares als des größten Vorbildes deutscher Dichtung — das war der große Dreiklang, in den alles Dichten und Trachten der Stürmer und Dränger des vorigen Jahrhunderts ausmündete. Bürger war einer der Wenigen, der die Phrasen jener Tage in Thaten umsetzte, aber er war zugleich der einzige, der mit der Wünschelruthe des Genius die vergrabenen Schätze der Volkspoesie entdeckte, nicht etwa nur, um sie, wie Herder, zu sammeln und aufzuspeichern, nein, um das gefundene Gold in der eigenen Münze neu zu prägen. Der Volkston der Kunstdichtung ward durch ihn entdeckt, die bewußte Versenkung des Kulturmenschen in die Wunderwelt der Sage und der Ahnungen und die Neugestaltung dieser Wunderwelt im Liede. So wurde Bürger der Schöpfer der deutschen Ballade — nicht in dem Sinne der bekannten Schiller'schen Schulgedichte, in denen alle wundersamen Begebenheiten nur um der angehängten Moral willen erzählt werden, sondern im Sinne Goethe'scher Naturpoesie, in der alles Vergängliche von selbst zum Gleichniß wird, in der der Sagenstoff nicht bloß Mittel zu höheren moralischen Zwecken, sondern das A und O der ganzen Dichtung ist. Darum packen uns Balladen wie die Lenore, das Pfarrerstöchterlein von Taubenheim, der wilde Jäger, Kaiser und Abt, das Lied vom braven Mann, trotz einer gewissen Breite der Schilderung und einzelner rhetorischen Ueberschwänglichkeiten heute noch, als wären sie erst gestern gedichtet worden. Denn Alles ist hier geschaut, nichts gemacht und gekünstelt, und selbst die Weitschweifigkeit und ein gewisser Wortbombast, der oft mit unterläuft, stören uns kaum, denn sie erinnern unwillkürlich an die Geschwätzigkeit mancher Volkslieder."
1898 Konversations-Lexikon “Im eigentlichen Liede, wo er sich dem Volkstone nähert und sich nicht, wie im ´Hohen Lied´ oder in der ´Nachtfeier der Venus´, mit Rhetorik und rhythmischem Glanze begnügt, steht B. den besten Dichtern gleich. Seine Liebesgedichte, obschon sie die Liebe mehr in ihrem sinnlichen Gehalt als in ihren zarten Tiefen und geistigen Elementen erfassen, sind oft hinreißend durch den klangvollen Strom der Worte und die leidenschaftliche Glut des Gefühls. Er zuerst wieder ließ alle Empfindungen des Herzens in seinen Versen zu völlig ungekünstelten, ehrlichen und doch poetisch vollendetem Ausdruck gelangen. B. ist als Mitschöpfer der neudeutschen Dichtersprache zu betrachten.” 1898 Gustav Macasy “Gottfried August Bürger. Gedenkblatt zur hundertfünfzigsten Wiederkehr seines Geburtstages. Die Wogen des ‘Sturmes und Dranges’ hatten sich gelegt. Die deutsche Dichtkunst hatte sich freigerungen von den Fesseln mittelalterlicher, wunderlicher Regeln einerseits, französischer Künstelei andererseits. Mit dem Beginn der Neuzeit war eine Renaissance durch das gesammte Kunstleben gegangen, an der die Dichtkunst am spätesten theilnehmen sollte. Aber um die Mitte des vorigen Jahrhunderts begann auch hier der Umschwung. Die Natur, die man fast vergessen hatte, sollte in der Poesie wieder zur Geltung kommen, die Persönlichkeit, die das Neue in der Außenwelt schauen und wiedergeben lernte, nicht nach steifen Gesetzen, sondern in freier, selbst geschaffener Form, sollte wieder ihre Rechte erhalten. Von der Bühne herab sprachen nicht mehr die plumpen Hanswurstiaden und ledernen Haupt-und Staatsaktionen, sondern das echte, psychologische Drama, wie es Shakespeare, das Vorbild der Stürmer und Dränger, geschaffen hatte. Und in der Lyrik sprach nicht mehr das hohle Pathos erkünstelter Gefühle, sondern die einfache Innigkeit und Wirklichkeit eines künstlerischen Seelenlebens. Dies waren die Ziele des ‘Sturmes und Dranges’ gewesen, aus welchem sich die große klassische Periode der deutschen Dichtkunst entwickelte, bis zuletzt von dem breiten, überschäumenden Strome nichts übrigblieb, als das dürre Wässerlein eines falschen Idealismus, dessen Schöpfer Schiller war und dessen Nachbeter und Nachahmer noch über die Romantik hinaus bis tief in die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts ihr kärgliches Dasein fristeten. Einer der eifrigsten Vorkämpfer und der letzte Vertreter des Sturmes und Dranges war Gottfried August Bürger. In ihm kamen die Hauptmomente dieser Kampfperiode der Dichtkunst zur Geltung: der neue, ursprüngliche Realismus, der die Kunst nicht von der Natur trennt, sie nicht über die Natur stellt, sondern Kunst und Kunstempfinden aus der Natur und der Anschauung der Natur entwickelt. Und zweitens die Individualität, die zu ihrer Bethätigung der freien Entfaltung bedarf, die sich nicht in vorgeschriebenen Kunstbahnen bewegen kann, sondern sich ihre Bahn selbst zeichnet. Daher der gewaltige Unterschied in den Gedichten eines Realisten, wie Bürger, und eines Idealisten, etwa Schillers. Dort die freie, klare Form, die Knappheit der Gedanken und Gefühle, die Ursprünglichkeit des Ausdruckes: hier schwere, einengende Formen, Breite und Weitschweifigkeit der Bilder und Vergleiche, welche die fehlende Natürlichkeit ersetzen müssen, und Vergewaltigung des Ausdruckes. Dort der Dichter, der die Schönheit in der Außenwelt und in sich sieht und zur Schönheit der Kunst macht, hier der Dichter, der die Natur in ein vorgefaßtes Schönheitsideal hinein zwängt, um sie als Gegenstand der Kunst gebrauchen zu können. — Darum erscheinen uns viele, ja die meisten Gedichte Bürgers, zumal seine kurzen Liebeslieder und großen Balladen, trotz ihres Alters noch heute so verwandt und innig, als ob sie aus dem Born der Moderne geschöpft wären, während uns die Gedichte Schillers mit ihrer breiten Sprachverschwendung, ihrem hohlen Pathos fremd, ja lächerlich vorkommen.”
1903 Karl Eugen Dühring “Nach unserm Urtheil ist Bürger der wahrste und bedeutendste Liebeslyriker, den die Deutschen, ja den vielleicht überhaupt das 18. und 19. Jahrhundert zusammengenommen aufzuweisen haben. Die gleiche Kraft und der gleiche Wirklichkeitssinn, gepaart mit der gleichen Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit, sind in diesem Gebiet, soweit mir bekannt, in der ganzen Geschichte und Welt von Niemand sonst vertreten.”
1905 Meyers Großes Konversations-Lexikon “namhafter deutscher Dichter, geb. in der Silvesternacht 1747/48 in Molmerswende bei Ballenstedt am Unterharz. [...] B. war klein und hager, die Gesichtszüge waren zu groß für seine Gestalt, aber Stirn und Nase kühn, und durch die schönen Augen schimmerte der schaffende Dichtergeist. Gesellige Gewandtheit ging ihm ab, und seinem Charakter fehlte bei einem hohen Grad von Herzensgüte die Willensstärke. Bürgers Dichtertalent gedieh nur langsam zur Entwickelung, wesentlich gefördert durch die kritische Strenge seines Freundes Boie und insbes. durch die Berücksichtigung volkstümlicher Muster. Die Wärme seiner Empfindung, die unmittelbaren und ergreifenden Naturtöne der Innerlichkeit, die Weichheit und zugleich die Kraft des Ausdrucks, die Mannigfaltigkeit der Formen, die er beherrschte, stempeln ihn zu einem der größten deutschen Lyriker, wenn auch Schillers Vorwurf, ihm fehle der ideale Begriff von Liebe und Schönheit, nicht ganz unberechtigt ist. Neben seinen lyrischen Gedichten wurden vor allem seine erzählenden Gedichte im Volkston berühmt.”
1905 Erich Walter “Das harte Urteil, das Friedrich Schiller über Bürger als Dichter und die Welt über Bürger als Menschen fällte, sah man als unumstößlich an, als Bürger im 46. Jahre seines Lebens, frühzeitig durch seelische Qualen gebrochen, aus der Welt schied, und lange, lange hat es gedauert, bis die Welt ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen sollte. Aber bei aller Hochachtung und Verehrung für den als Menschen und Gesamterscheinung unendlich viel größeren und harmonischen Schiller muß man heut doch sagen, daß sowohl sein Urteil als das des Herrn ´tout-le-monde´ nicht stichhaltig sind. Das der Herren ´Schnick und Schnack´, wie sie Bürger selbst genannt hat, ist eigentlich nicht der Ehre wert, ernsthaft kritisiert zu werden.”
1908 Herbert von Berger “Bürgers Balladen, die drei großen wie die späteren, sind die populärsten Dichtungen, die wir Deutschen in vollendeter Form besitzen. Populär nicht in dem Sinne, daß sie dem Gebildeten nichts sein können. - Der Arbeiter kann am Herd den Seinen diese Gedichte vorlesen und der Gebildete, wie er sich nennt, muß von seinem Schloß niedersteigen in die grünen Wiesen und heimkehren zum Ursprung wahrster Poesie, - dahin, wo der Dichter noch nichts weiß von Gedanken-Problemen, denen er Gestalten erringen will, nichts weiß von den Mauern, die der Verstand um die naive Seele baut, wo der Sänger zur Laute erzählt: den Totenritt, die Mär vom wilden Jäger und vom Pfarrerstöchterlein, des armen Suschens Traum, das Lied vom braven Mann, den Spaß vom Kaiser und dem Abt – und alle die andern.”
1908 Brockhaus Konversations-Lexikon. Leipzig. “Der allgemeine Beifall, der B.s Balladen, wie ´Lenore´, sein Meisterwerk, ´Lenardo und Blandine´, ´Des Pfarrers Tochter von Taubenhain´, ´Der wilde Jäger´, ´Das Lied vom braven Mann´, ´Der Kaiser und der Abt´, ´Das Lied von Treue´, ´Die Kuh´ und andere teils nachgebildete, teils erfundene, empfing, beweist, daß er zuerst den richtigen Weg einschlug, um die engl. Balladenpoesie in Deutschland einzubürgern; in andern Balladen gefällt er sich in einem gesucht burlesken Ton (´Der Raubgraf´, ´Die Weiber von Weinsberg´, ´Frau Schnips´). Im eigentlichen Liede, wo er sich dem Volkstone nähert und sich nicht, wie im ´Hohen Liede´ oder in der ´Nachtfeier der Venus´, mit Rhetorik und rhytmischem Glanze begnügt, steht B. den besten Dichtern gleich. Seine Liebesgedichte, obschon sie die Liebe mehr in ihrem sinnlichen Gehalt als in ihren zarten Tiefen und geistigen Elementen erfassen, sind oft hinreißend durch den klangvollen Strom der Worte und die leidenschaftliche Glut des Gefühls. Er zuerst wieder ließ alle Empfindungen des Herzens in seinen Versen zu völlig ungekünstelten, ehrlichem und doch poetisch vollendetem Ausdruck gelangen. B. ist als Mitschöpfer der neudeutschen Dichtersprache zu betrachten. Fast überängstlich auf Korrektheit und Wohllaut des Verses haltend [...] hat er auch fremdländische poet. Formen, wie das Sonett, in Deutschland neu zu Ehren gebracht; seine Sonette gehören zu den besten in deutscher Sprache; der glänzende Formkünstler Aug. Wilh. Schlegel war sein Jünger.”
1909 H. V. Wellberger [d.i. Hanns Heinz Ewers], “Am meisten hat ihn wohl Schillers Kritik gekränkt, in der es u.a. heißt: ´Man vermißt bei dem größten Teil der Bürgerschen Gedichte den milden, sich immer gleichen, immer hellen, männlichen Geist, der eingeweiht in die Mysterien des Schönen, Edlen und Wahren, zu dem Volke bildend hinabsteigt, aber auch in der vertrautesten Gemeinschaft mit demselben nie seine himmlische Abkunft verleugnet.´ Und diese lächerliche, von abgeschmackten, verlogenen Phrasen strotzende Kritik schrieb derselbe Schiller, der die ´Räuber´ schrieb! Auch in späterer Zeit ließ man Bürger selten Gerechtigkeit widerfahren; bis zu unseren Tagen haben alle Moralphilister mit frechen Nasen das Familienleben des großen Dichters durchgeschnüffelt und daraus den echt pfäffischen Schluß gezogen, daß auch in seiner Dichtung Bürger - weil unmoralisch - nicht zu werten sei! Geradezu ein Muster an widerlicher Moralheuchelei ist in dieser Beziehung der Aufsatz in der leider so weitverbreiteten, unsäglich verlogenen Literaturgeschichte von R. König. Es ist nichtswürdig, irgendeines Künstlers Werke nach seinem Privatleben zu beurteilen, und doch ist es gang und gäbe in den meisten unserer sogenannten volkstümlichen Literaturgeschichten.”
1911 Edwin Hoernle “Wie einst Luther, so ging auch Bürger unter die Linden des Dorfes auf die Bleichen und in die Spinnstuben, um der Sprache und den Liedern des Volkes zu lauschen. Echt volkstümlich ist Bürgers Tonmalerei, die packende Anschaulichkeit seiner Bilder, die lebhaften Zwiegespräche, die charakteristischen Ausrufe. Man hört bei ihm wirklich das Spinnrad surren, die Hunde bellen, die Peitschen knallen. In hastigen, kurzen Silben reden die Leidenschaften, in langen, ruhigen redet die Schwermut. Man muß Bürgers Gedichte deklamieren, um sie recht zu würdigen. Auch der Humor kam bei Bürger zu seinem Recht, wie ´Die Weiber von Weinsberg´, ´Frau Schnips´, ´Der Kaiser und der Abt´ beweisen, welch innerer Zartheit aber dieser Mann neben der leidenschaftlichen Glut fähig war, das zeigen seine Lieder an Molly.”
1925 Emil Ermatinger “In dem Gedichte ´Das vergnügte Leben´ hat Bürger eine Art Lebensideal besungen. Der Geist muß denken. Das Herz muß lieben. Also lustige Gesellschaft, wo man über einen Witz lachen kann, gutes Essen und nachts ein Weibchen. Auch er gehört mit dem Grunde seines Charakters noch zu jenem Geschlechte der Aufklärer, in dem Verstand und Empfindung getrennt nebeneinander hingingen. [...] Keine Frage, eine große und ursprüngliche Kraft arbeitete in ihm. Gedichte wie ´Lenore´ und manche Sonette bringt kein bloßes Talent hervor. Aber diese Kraft wirkte zu sehr als rohe Gewalt. Bürger mochte sich der Natur vergleichen, die aus dem gleichen Schoße die mannigfaltigsten Geschöpfe hervorbringt. Aber bildet ihr unendlicher Reichtum nicht doch eine Kette der reinsten Harmonie? Bürgers Mannigfaltigkeit dagegen ist nicht Reichtum, der einem einzigen Quell entspringt, sondern Zerstreutheit, wahlloses Ausgießen einer nicht in sich geeinigten Person. Wer vermutete, daß der Dichter, der die derbe Bänkelsängerei von der Frau Schnips verfertigte, die wie ein Fischweib alle Himmlischen abkanzelt, Gedichte geschaffen hat, wie das kunstvolle und zugleich von tiefen Gefühl durchglühte Sonett ´An das Herz´? In seiner berühmten Rezension der zweiten Auflage von Bürgers Gedichten von 1789 (In der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung) hat Schiller Bürger vor den höchsten Richterstuhl geladen und verurteilt. Was für ein spannendes, zugleich erhebendes und bedrückendes Schauspiel! Nicht nur zwei Persönlichkeiten, zwei Weltanschauungen, zwei Zeiten stehen sich gegenüber! Dem zwölf Jahre jüngeren Richter drückt nicht Anmaßung oder Zufall den Stab in die Hand, sondern das sittliche Recht und die innere Nötigung der Persönlichkeit, die in schonungslosen Kämpfen das eigene Ich zur klaren Größe klassischer Ausgeglichenheit emporzutragen strebte. Darnach formt er den Maßstab seines Urteils. Der Dichter soll der Inbegriff der ganzen sittlich-ästhetischen Bildung der Zeit sein, sein Werk ein Spiegel, der sie, geläutert und veredelt, in sich sammelt und mit idealisierender Kunst zum Muster erhebt. Bloßes Talent kann den Mangel an sittlicher Reife nicht ersetzen. Der Mangel, den Schiller daher an dem älteren Dichter findet, ist das ausgebrannte Stück seines eigenen Selbst: Bürger gebricht die geistige Klarheit, die sittliche Reife der geschlossenen Persönlichkeit, seinem Werke die künstlerische Größe und Harmonie.”
1926 Herbert Cysarz “Goethe endlich erwirbt das höchste Gut der Erdenkinder, im Zeichen der Hellenen. Den Griechen gilt Persönlichkeit als Göttliches, und ihre Götter sind Bilder lautersten Menschentums: Ein künstlerischer Kult des Wesentlichen! Das bleibt der Leitstern auch der Klassik: Persönlichkeit statt nur interessanter Individualität, Norm statt Apartheit und Bizarrerie! In Schillers Bürger-Rezension tritt dieser klassische Persönlichkeitsbegriff am schroffsten gegen seine Widersacher: das Laute, das Plumpe, das Grelle, das Gleissende, das Rührende. Auch Goethes Abwehr des Romantischen als eines Kranken richtet sich gegen die Pflege des Interessanten, Exzentrischen, Phantastischen.”
1928 Max Kommerell “Dadurch daß in aller Dichtung ein verantwortlicher Wille, eine Maß setzende Gesinnung wirksam ist, steht die engere Klassik abseits von jeder andern dichterischen Bewegung in Deutschland. Beide Führer waren auf getrennten Wegen dazu gedrungen, beide hatten sich darin gefunden: daß das Werk des Dichters keine Willkürschöpfung von Traum und Gedanken noch auch Nachbildung des Wirklichen sei - sie ist die geistig erscheinende Form des in sich gerundeten Menschseins. Von diesem Begriff aus empfängt die Dichtung den hohen menschenbildenden Wert und wenn sich so ihre Würde über Weltweisheit Glaubens- und Sittenlehre erhöht (Zorn aller auf die ´unbedingten´ Werte Gerichteten) so wurde auch das Höchste von ihr gefordert: weder die reine Fertigkeit, weder das verjährt Süßliche noch das volkstümelnd Biderbe konnte vor diesem Anspruch bestehen und eine Reihe von Ablehnungen - sie beginnt mit Bürger und endet mit Kleist - bestätigt die beinah staatsmännische Strenge, mit der er aufrechterhalten wurde. Wie jeder verpflichtende Begriff schloß auch dieser andersgerichtetes Leben aus und verdrängte es wo es nicht edel genug war, eigenen Gesetzes versichert zu sein oder nicht stark genug, sein Anrecht gegen das fremde Anrecht zu wahren.”
1939 Walter Abendroth “Ja, in der Tat war Bürger kein Idealisierer - sein oberstes Kunstgesetz war Lebenswahrheit und Gefühlsechtheit; in der Tat auch war Bürger unbewußt und bewußt ‘populär’; in der Tat bezog seine Kunst auch ‘das Platte’ ein - wenn wir dieses Wort verstehen im Sinne der Volksetymologie, im Sinne des stammeseigenen, bodenständigen, volkstümlichen Sprachgebrauchs. Und dieser Gesamterscheinung standen Wesen und Wollen des weltumspannenden Geistes, des dichtenden Philosophen, des absoluten Ästheten, der Schiller außer- und oberhalb seiner stärksten künstlerischen Leistung als pathetischer Dramatiker und theatralische Gestalter aus dem Großen war, so fern, wie sich nur denken läßt. Darin, daß Schiller das, was er ‘das Platte’ nannte, sozusagen moralisch auffaßte oder mit dem Banalen gleichsetzte, daß überhaupt in seiner Begriffswelt ‘Volk’ in erster Linie eine niedere Schicht, einen geringen Stand bedeutete, darin war er durchaus noch ein Kind seines Jahrhunderts, das zwar seit Rousseau gern mit ‘Natur’ und Bäuerlichkeit kokettierte, doch nur unter der Voraussetzung, daß es sich dabei um ‘Rückkehr’, also um ein gewolltes Spiel handelte, nicht im Ursprung, um legitime Zugehörigkeit und naturgegebene Notwendigkeit. Darin aber, daß Schiller das ‘Idealisieren’ und Abstrahieren als conditio sine qua non des beglaubigten Dichtertums ansah, darin widersprachen ihm schon manche sehr beachtenswerte Geister seiner eigenen Zeit mit Wort und Tat.”
1944 Ernst W. Neumann "Bürgers Gedichte sind unvergänglich. Seine 'Lenore' hat bis auf den heutigen Tag an ihrer Wirksamkeit und Kraft noch nichts eingebüßt. Die Tragödie seines persönlichen Schicksals hat die Ausschöpfung seiner großen Begabung verhindert. Seine innere Zerwühltheit, das Zerwürfnis mit sich selbst, vor allem aber die Beherrschung des Ichs, die ihm anscheinend ganz fehlte, unterband die anhaltende schöpferische Tätigkeit. Was er schrieb, warf er hin: selten raffte er sich zu einer größeren Arbeit auf. Ihm fehlte die Ausdauer, und diese war schon zu seiner Zeit notwendig, um sich als Schriftsteller durchzusetzen. An der Begabung hat es nicht gefehlt, aber an der Lenkung, an dem vorgezeichneten Weg, an der Richtung."
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1948 Walter Muschg “In der Kunst bedeutet dieses Vollkommenheitsbewußtsein unfruchtbare Erstarrung, auch wenn es nicht in pharisäischen Dünkel ausartet. Jeder seherische Dichter, der sich auf eine Offenbarung beruft, läuft Gefahr, auf die Dauer so zu versteinern. Deutschland, das Land des Theologenhochmuts und des Kirchenstreits, hat diesen Typus auch in der Literatur besonders erfolgreich am Werk gesehen. Alle Macht ist böse und entsteht durch Schuld. Auch die Machtstellung, die Goethe und Schiller für sich eroberten, machte davon keine Ausnahme. Nachdem sie sich einmal verstanden, erwies sich der priesterliche Schiller als der geniale Hüter und Mehrer ihres Reiches. Er hatte den strategischen Blick und die unermüdliche Freude am Kampf. Schon auf dem Weg zu Goethe war er vor keiner geistigen Gewalttat zurückgeschreckt. Eine der schlimmsten war die Rezension, mit der er Bürger, den Dichter der «Lenore», als ein Goethe wohlgefälliges Opfer abschlachtete. Es war die eigene revolutionäre Vergangenheit, von der er sich mit diesem Meisterwerk an Scharfsinn und Bosheit lossagte, aber Bürger blieb dabei mit seiner Person und seinem Ruhm auf der Strecke. So gewaltsam ging es in Schillers ganzem Leben zu.”
1967 Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller von den Anfängen bis zur Gegenwart “B., dessen konsequent demokratisch-plebejische Haltung wie seine Begeisterung für die Französische Revolution bekannt waren, wurde, da er nicht von der Gnade der Fürsten leben wollte, ein Opfer der elenden dt. Zustände. Er lebte von Übersetzungen für Verleger und als Redakteur des ´Deutschen Musenalmanachs´ (1779/94).[...] B. war einer der stärksten und ursprünglichsten Lyriker des 18. Jh., der sich nicht scheute, seine Dichtung in den Dienst seiner politischen Gesinnung zu stellen (´Der Bauer an seinen durchlauchtigen Tyrannen´, ´Für wen, du gutes deutsches Volk . ..´). Seine überragende Leistung liegt auf dem Gebiet der volkstümlichen Ballade, die er unter dem Einfluß Herders und der engl. Volkspoesie schuf. Mit ´Lenore´, ´Der wilde Jäger´, ´Der Raubgraf´, ´Das Lied vom braven Mann´, ´Des Pfarrers Tochter von Taubenhain´ u. a. gelangen ihm weitverbreitete, populäre Dichtungen, die sich durch ihren antifeudalistischen und volksverbundenen Charakter, durch realistische Darstellungskraft, leidenschaftliche Anteilnahme und Formvollendung (Spannung, Stimmungs- und Lautmalerei, volkstümliche Wendungen, erregender Rhythmus) auszeichnen. B. verstand Lyrik als persönliches Bekenntnis, als Ausdruck innerer Bewegtheit (vgl. z. B. die ´Molly-Lieder´), was u. a. in Schillers berühmter Rezension (1791) vom Standpunkt des klassischen Kunstideals getadelt wurde. B.s zum Volksbuch gewordener ´Münchhausen´ (1785), eine köstliche Satire auf den Adel, die er anhand von zwei Vorlagen aus dem Engl. des R. E. Raspe zurückübersetzte und insgesamt um etwa ein Drittel erweiterte, gehört neben seiner Lyrik zu seinen fortlebenden poetischen Werken.”
1968 MEYERS KLEINES LEXIKON “Plebej.-demokrat. Schriftsteller des Sturm und Drang; war beispielgebend für die volkstüml. deutsche Balladendichtung (´Das Lied vom braven Manne´, ´Lenore´). B., der sich für die Französ. Revolution begeisterte, kämpfte in Gedichten und Prosaschriften gegen die Tyrannenherrschaft. Seine Bearbeitung der satir., gegen den Adel gerichteten ´Wunderbaren Reisen des Freiherrn von Münchhausen´ (1786) wurde ein vielgelesenes Volksbuch.”
1974 Klaus L. Berghahn “Indem die Klassiker nämlich gegen die Unterhaltungsliteratur und den Lesepöbel ästhetisch zu Felde zogen und aus der Diskriminierung ihre eigene Ästhetik entwickelten, die weitgehend am literarischen Geschmack eines exklusiven Kreises orientiert war, verloren sie breiteste Leserschichten und damit die Möglichkeit, eine echt volkstümliche Kultur vorzubereiten. Eine solche These mag überraschen, gilt Schiller doch als der ´Zeitgenosse aller Epochen´, der immer wieder als volkstümlich gerühmt wird. Hat er nicht selbst ein für allemal in der Bürgerrezension festgelegt, was volkstümliche Dichtung zu sein habe? Doch sei man vorsichtig, sich gegen den naiven Bürger vorschnell auf die Seite Schillers zu schlagen, ohne recht zu wissen, für welch herablassende Volkstümlichkeit man sich da entscheidet.”
1976 Klaus F, Gille “Das rational fundierte Laienurteil, das in der Frühaufklärung jedermann zugestanden wird, wird im weiteren Verlauf des Jahrhunderts auf das klassengebundene Kunstgefühl eingeengt. Illustriert wird diese Entwicklung etwa durch die Polemik des Baumgarten-Schülers Georg Friedrich Meier (1746), der sich gegen das ‘Vorurteil’ wendet, ‘ein jeder, der gesunden Verstand hat, müsse vermögend seyn ein Gedicht zu verstehen’. Bürger, einer der Exponenten der plebejischen Unterströmung der Aufklärung, bewahrt dieses ‘Vorurteil’. Gegen ihn, der die Gemeinverständlichkeit zum leitenden Prinzip und Wertmaßstab der Dichtung erklärt, richtet sich schon in der Frühzeit seines Auftretens der Literaturpapst Friedrich Nicolai.”
1976 Helmut Koopmann “Für Bürger liegen die ästhetischen Maßstäbe nicht in einer allgemeinen Gesetzlichkeit, sondern im jeweiligen Literaturwerk selbst. Es ist nichts Geringeres als die Auflösung der Ästhetik des 18. Jahrhunderts, die sich hier ankündigt, der Einzug neuer Wertungskriterien, die Ahnung dessen, daß die Zeit allgemeiner Kunstregeln und einer fraglosen Kunstrichterei vorbei sei. Mit Schillers Bürger-Rezension endigt eigentlich schon die Ära einer Kritik nach unbezweifelbaren Grundsätzen und den ‘Grundbegriffen des Vollkommnen und Schönen’, Und die Epoche, in der literarische Wertung zum Problem werden sollte, beginnt.”
1983 Walter Müller-Seidel “Er [Bürger] hat wie andere ein Anrecht darauf, daß man seinem eigenen Stil gerecht wird. Wenn sich indessen der eigene Stil überlebt hat, wird die Individualität zur privaten Individualität, die zur Kritik herausfordert - wie es hier geschieht. Dabei sollte man den Dichter nicht ganz so unbesehen überschätzen, wie es üblich ist, wenn man ihn gegen Schiller verteidigt. Es gibt in Bürgers Lyrik sehr viel Unvollkommenes und Unfertiges, und es fällt nicht einmal leicht, die vollkommenen Gedichte zu bezeichnen, die man ohne Vorbehalt in unsere beliebten Blütenlesen aufnehmen darf - in jene, die bemüht sind, jeweils das Beste vom Besten zu bringen. Das trifft in erster Linie für die reine Lyrik zu, aber mit der Ballade verhält es sich nicht wesentlich anders. In einer Auswahl aus neuerer Zeit ist einzig die Lenore vertreten, und wer eine derart bescheidene Auswahl ungerecht findet, muß begründen, warum er anderes vermißt. Die guten Gedichte Bürgers sind nicht so zahlreich, wie diejenigen vorgeben, die den großen Dichter manchmal mit allzu bewegten Worten vor dem abstrakten Theoretiker in Schutz nehmen - als sei Theorie eine Sünde wider den Geist der Poesie.”
1987 LEXIKON deutschsprachiger Schriftsteller, Leipzig “B., dessen konsequent demokratisch-plebejische Haltung wie seine Begeisterung für die Frz. Revolution bekannt waren (1790 Freimaurerrede Ermunterung zur Freiheit), fristete - ständig in materiellen Schwierigkeiten - seinen Lebensunterhalt durch Übersetzungen und als Redakteur des ‘Dt. Musenalmanachs’ (1779/94); nach einem Hungerdasein starb er an der Schwindsucht. - B., einer der stärksten und ursprünglichsten Lyriker des 18. Jh., löste sich schon früh von religiöser Einengung und herrschendem Tugendrigorismus (z. B. des Göttinger der Hains). Aus seiner sinnlich-realistischen Grundhaltung resultiert die bedingungslose Hinwendung zur Wirklichkeit, vor allem in der Liebeslyrik. Frei von asketisch-moralisierenden und religiösen Tendenzen, sind B.s Molly-Lieder bekenntnishafter Ausdruck innerer Bewegtheit und wie sein Danklied (1772), das die volkstümliche Sprache protestantischer Kirchenlieder umfunktioniert, bezeichnend für Diesseitigkeit und Sinnenfreude. Aus seinen düsteren Erfahrungen der Amtmannszeit erwuchs das revolutionäre Rollengedicht Der Bauer. An seinen durchlauchtigen Tyrannen (e. 1773/75). Nach 1789 nahm B. Ideen der Frz. Revolution in seine politische Lyrik auf (Die Tode, 1792) und weitete die Entlarvung des fürstlichen Despotismus zur nationalen Aufgabe (Für wen, du gutes deutsches Volk ... , 1793). Seine überragende poetische Leistung sind volkstümliche Balladen, die - Motive des Volksliedes und der Volkssage aufgreifend und ihren sozialen Bezug meist aktualisierend - unter dem Einfluß Herders und des englischen Dichters Percy entstanden. Mit Lenore (e. 1773), Der Raubgraf (1776), [...], Der wilde Jäger (1786) u.a. schrieb B. Dichtungen, die sich durch ihren antifeudal-volksverbundenen Charakter, realistische Darstellungskraft, leidenschaftliche Anteilnahme und vollendete Technik (Spannung, Stimmungs- und Lautmalerei, erregender Rhythmus) auszeichnen. Eine überzeugende theoretische Darlegung seiner neuen dichterischen Position gelang B., der die Popularität der Kunst zur höchsten Forderung erhob (Über Volkspoesie, Aus Daniel Wunderlichs Buch, 1776), jedoch nicht. Schiller hat, ohne B.s Leistung historisch voll gerecht zu werden, in seiner kritischen Auseinandersetzung mit ihm (1791) aus der Sicht der klassischen Ästhetik eine Synthese von Popularität und höchster Kunstvollkommenheit formuliert. B.s Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande, Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen (1786, Ndr. 1981, erw. 1789), eine Satire auf den Adel, die er anhand von zwei Vorlagen in freundschaftlicher Zusammenarbeit mit Lichtenberg aus dem Engl. des Rudolf Erich Raspe (1737-1794) rückübersetzte und insgesamt um etwa ein Drittel erweiterte, wurden zu einem Volksbuch und gehören zu seinen fortlebenden poetischen Werken.”
1995 Joachim Bernauer “Schiller stellt selbst die Frage: ‘Aber darf wohl diesem Maßstab auch ein Dichter unterworfen werden, der sich ausdrücklich als 'Volkssänger' ankündigt und Popularität [ ... ] zu seinem höchsten Gesetz macht?’ Es handelt sich natürlich um eine rhetorische Frage. Schiller benutzt Bürgers Begriffe nur, um sie mit kunstrichterlicher Souveränität nach seinen Vorstellungen umzudefinieren und Bürger nach dessen vermeintlich eigenem ‘höchsten Gesetz’ anklagen und verurteilen zu können.”
1997 Paul Raabe “Er [Bürger] hatte noch erleben müssen, wie ihn einer der beiden Klassiker, Friedrich Schiller, in einer Rezension auf eine infame, unverzeihliche Weise wegen des volkstümlichen Stils seiner Gedichte und Balladen nicht nur abkanzelte, sondern zugleich moralisch vernichtete. [...] Aber in einem anderen Sinne ist Bürger ein ‘trauriges Beispiel’. Das Verdikt der Klassiker hat dazu beigetragen, daß dieser Dichter der Sturm- und Drangperiode, in der die Aufklärung zugleich in literarischer Hinsicht einen Höhepunkt hatte, nie den Platz in der deutschen Literaturgeschichte erhalten hat, der diesem genialen und zugleich unglücklichen Autor zukommt.”
1998 Peter von Matt “Bürger hat das deutsche Gedicht zu einem Ereignis aller fünf Sinne gemacht. Wie das deutsche Theater vom sozialen Scharfblick Lenz', lebt der deutsche Vers bis heute von Bürgers melodischem Sensualismus - ob das die Dichterinnen und Dichter nun selber wissen oder nicht. Seine Balladen bliesen das literarische Rokoko mit einem einzigen Stoß ins Museum. Die ‘Lenore’, ein Gedicht, das nichts ist als ein trommelnder Ritt durch die Nacht, wirkte noch auf Goethe so obsessiv, daß er es sich mit einem zweiten Ritt durch die Nacht, dem ‘Erlkönig’, vom Leib schreiben mußte. Und Schiller debütierte in seiner ‘Anthologie auf das Jahr 1782’ als unverstellter Bürger-Epigone. Das wurde ihm dann später so peinlich, daß er den Vorgänger öffentlich exekutierte.”
1998 Gerhard Plumpe “Was hält der philosophische Kritiker [Schiller] dem Dichter der Lenore nun aber vor? Seine Resonanz im Lesepublikum; sie ist es, die Schiller verdächtigt und auf ein ebenso erfolgreiches wie skandalöses Schreibprogramm zurückführt. Bürger habe bei den Leuten Erfolg, weil er ihre Erwartungen bediene, sie unterhalte und ihre Phantasie mit Pikantem stimuliere. [...] Das ist dem Philosophen - auch wenn es die Leute interessiert - natürlich zu wenig; die Literatur hat ´höhere´ Aufgaben: Ihr vornehmstes Ziel müsse es sein, das ´Ideal´ der Menschheit zu fassen, keineswegs aber in effekthascherischer Absicht etwa nur dessen Bestandteile - und dann noch die bloß ´sinnlichen´. Das der Poesie aufgegebene ´Ideal´ des Menschen aber ist das philosophische Phantasma einer Totalität, die aus der Gegenwart entschwunden ist.”
2001 Andreas Huyssen “Wie sonst im Sturm und Drang nur noch Lenz wurde Bürger das Opfer einer Literaturbetrachtung, die ihre Vorurteile gegenüber dem radikalen Demokraten hinter moralischer Mißbilligung seines Lebenswandels und Kritik an seiner angeblich schlampigen Amtsführung versteckte. Die Vorwürfe des Disziplinmangels, des groben Naturalismus, der ausufernden Sinnlichkeit, die sich ebenso gegen die Dichtungen wie gegen den Menschen Bürger richteten, führten dazu, daß schließlich nur noch die Lenore als bedeutende poetische Leistung Bürgers anerkannt wurde. Paradoxerweise ließ gerade die in der Tat einmalige Perfektion der Lenore Bürgers übrige Balladen und Romanzen, seine Lieder und Sonette in Vergessenheit geraten.”
2005 Rolf Selbmann “Zugespitzt formuliert ist die deutsche Klassik vor allem eine Erfindung ihrer Nachkommen. Keine Epoche wurde so häufig, so wirkungsvoll und so unhistorisch für die Ziele der jeweiligen Zeitgenossenschaft benutzt, verbogen und zurechtgestutzt. [...] Nicht erst seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts erhob sich Ideologiekritik. Klassik galt als das fragwürdige Produkt einer unpolitischen, die sozialen Ungerechtigkeiten negierenden Privilegienkultur.”
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