1882 Lexikon der deutschen Nationallitteratur. Leipzig
“Seine ´Gedichte´ (zuerst 1778 gesammelt) bildeten den Kern und Stamm seiner sämtlichen Werke und gaben ihm eine bedeutende Stellung in der Entwicklungsgeschichte der deutschen Poesie. B. war einer der ersten Dichter, die in Lied und Ballade unmittelbare Wärme der Empfindung, volle Wirklichkeit des Lebens, höchste Mannigfaltigkeit der Stimmung in sinnlich-kräftigem, fortreißendem Ausdruck und in reizvoller Form und mit melodischem Fluß gaben. Seine vorzüglichen Balladen (namentlich ´Lenore´, ´Der wilde Jäger´, ´Das Lied vom braven Mann´, ´Der Kaiser und der Abt´) und die einfach-schönen Gedichte, welche die Stimmungen seines freilich nicht harmonischen Lebens treu wiedergeben, konnten durch vermeintlich volkstümliche Roheiten, Plattheiten und Geschmacklosigkeiten, die sich in andern Gedichten, ja gelegentlich und vereinzelt sogar in den besten Dichtungen selbst finden, nicht wirkungslos gemacht werden. An der formellen Vollendung der Bürgerschen Gedichte hatten auch die Reflexion und unablässige Übung ihren Anteil; B. gehörte zu den Poeten, bei welchen die Vorstellung künstlerischer Vollendung zuerst wieder Macht gewann. Die verhältnismäßig nicht sehr zahlreichen Gedichte schlossen daher eine Fülle wirklichen innern Lebens, sprachlicher Kraft und poetischer Arbeit in sich ein und lassen in B. den hervorragendsten deutschen Lyriker der vorgoetheschen Epoche unsrer Literatur erkennen.”

1882 Brockhaus’ Conversations-Lexikon, Leipzig
“Seine Liebesgedichte, obschon er in ihnen die Liebe nicht in ihren zarten Tiefen und geistigen Elementen erfasste, sind oft hinreißend durch den vollen Klang ihrer Worte und durch ihre sinnliche und leidenschaftliche Glut. Seine Sonette gehören zu den besten, die in deutscher Sprache gedichtet worden sind. Wohl zu beachten ist auch der kräftige Mannessinn, der Haß gegen alles Schlechte, Gemeine, Despotische in manchen seiner Gedichte, wie er auch einer der ersten Deutschen war, welche die exklusive Gelehrsamkeit, den Gelehrtendünkel und die Pedanterie in der Wissenschaft mutig angriffen. Bürger ist als einer der Sprachschöpfer des 18. Jahrhunderts zu betrachten. Nicht nur, dass er ängstlich auf Korrektheit und Wohllaut des Verses hielt, so hat er auch manche fremdländische poetische Formen, wie das Sonett, in Deutschland wieder zu Ehren gebracht.”

1888 Meyers Konversationslexikon
“Schiller wirft in seiner Rezension in der ´Allgemeinen Litteraturzeitung´ von 1791 B. vor, daß seine Gedichte keinen reinen Genuß böten, daß ihm durchaus der ideale Begriff von Liebe und Schönheit fehle, daher seine Gedichte zu oft in die Gemeinheit des Volkes hinabsänken, statt dieses zu sich zu erheben, daß überhaupt der Geist, der sich in seinen Gedichten ausspreche, kein gereifter sei, daß seinen Produkten nur deshalb die letzte Hand der Veredelung fehle, weil sie ihm wohl selbst fehle. Dies wenn auch strenge Urteil mag bestehen, wenn man das Gegengewicht der Vorzüge Bürgers gelten läßt. Denn die Wärme seiner Empfindung, die unmittelbaren und ergreifenden Naturtöne der Innerlichkeit, die Weichheit und zugleich die Kraft des Ausdrucks, die Mannigfaltigkeit der Formen, die er beherrschte, werden ihm unter den deutschen Lyrikern immer einen bedeutenden Platz sichern. In der Ballade hat er (einige verfehlte abgerechnet) sehr Hervorragendes geleistet, und der melodische Fluß seiner Lieder ist oft von höchster Schönheit. Seine Übersetzungen sind, wie der Versuch einer Ilias in Jamben und seine Macbeth-Bearbeitung, meistens durch die Anwendung falscher Übersetzungsprinzipien mißlungen.”

1894 Julius Sahr
“Ja, das Studium der Muttersprache ist, wo gottbegnadete Priester ihre Lehren verkünden, das geworden, zu dem Bürger es machen wollte: ein Studium der Weisheit im höchsten Wortsinne. Aber daraus dürfen wir leider noch nicht schließen, daß deshalb auch heute jener Gelehrtendünkel und -Hochmut, an dem Bürgers Streben zu Schanden ward, aus allen Köpfen völlig verschwunden sei. [...] Seltsame Empfindungen überkommen uns, wenn wir das überblicken, was Bürger als Lehrer des Deutschen gewollt und geleistet hat. Er war kein Germanist im heutigen Sinne, das ist klar, aber ein Vorläufer der Germanistik war er doch und zwar einer von scharf ausgeprägter Eigenart. Bewundernswert ist, daß er, ein Mann ohne eigentliches geschichtliches Studium unserer Sprache, eine so richtige Ahnung von sprachgeschichtlichen Vorgängen, von der Entwickelung der Sprache hatte, vor allem, daß er den weitern Gang seines Lehrfaches so klar voraussah und vorhersagte. Bürger zeigt hier, ähnlich wie öfters Herder, einen wunderbaren geschichtlichen Spürsinn. Bei ihm wie bei Herder empfinden wir wieder einmal lebhaft, daß Dichter Lieblinge der Götter sind; ihrem ahnungsvollen Geiste offenbart sich mehr als gewöhnlichen Sterblichen; vor ihrem Seherblick lüftet sich der Schleier der Zukunft.”

1894 Paul Schlenther
“Bürger, den der stark persönliche Angriff des Ungenannten [Schiller] in trübsten Lebensverhältnissen traf, raffte sich zu einigen schwächlichen Repliken auf und wurde an sich selbst so irre, daß er anfing, in seinen Gedichten nach Schillerschen Rezepten herumzukuriren. Aber einen starken Moment hatte er in diesem Kampfe doch: als er sein Spottgedicht ‘Der Vogel Urselbst’ schrieb, das, obwohl oder weil es gegen Schiller gerichtet ist, noch niemals nach Gebühr gewürdigt wurde. Es ist eine der glücklichsten literarischen Revanchen, die wir besitzen, und zeigt den niedergetretnen Dichter noch einmal aufrecht dastehn in der ganzen Vollendung seiner poetischen Formen und seines selbständigen Geschmacksbewußtseins.”

1894 Theodor Fontane
“[...]; ich kann mir nämlich kaum einen ordentlichen Deutschen vorstellen, der nicht Bürger-Schwärmer wäre. Als Balladier steckt er doch den ganzen Rest in die Tasche; der Ruhm Bürger's hat mir immer als ein Ideal vorgeschwebt: ein Gedicht [Lenore] und unsterblich.”

1894 Theodor Fontane
“Sehr interessant war auch der Schlußartikel unseres Schlenther über Bürger. Der Artikel hat eine literarhistorische Bedeutung, weil er fixiert, was seit lange in der Luft schwebt: Nationales und Volkstümlichkeit gegen das Schillertum als etwas halb Fremdes. Die Sache war schon öfter da, aber der Ausgangspunkt (Bürger) ist hier neu.”
 

1894 Ludwig Gorel
“Die siebzigste Geburtstagsfeier lebender Dichter bedeutet oft nur eine pomphafte Einsargung, die Säkularfeier oft nichts anderes, als eine schwunghafte Verabschiedung; denn ehe wieder ein Säkulum verflossen, ist der Dichter schon verschollen. Bei Bürger aber trifft das so wenig zu, daß sein Stern eher im Steigen begriffen ist, und die Zeit seines rechten Verständnisses und seiner Würdigung vielleicht noch erst kommen wird.”

 

1894 F. H.

“Sie [Lenore] durchflog in einem Augenblicke ganz Deutschland bei ihrem Erscheinen (1773); sie wurde im Volke so eifrig verschlungen, wie in den schöngeistigen Kreisen von Weimar und Jena. Wie sie noch heute einer der Grundpfeiler ist, auf welche sich die Unsterblichkeit ihres Verfassers stützt, so trug sie ihm damals viel Ruhm und Ehre ein. Bürger ist vielfach verherrlicht noch mehr aber als Mensch und als Dichter mit Recht und Unrecht geschmäht, angegriffen worden. Er selbst tröstete sich einst über solche Erfahrungen mit dem bekannten Epigramm: ‘Wenn Dich die Lästerzunge sticht, So laß Dir dies zum Troste sagen: Die schlechtsten Früchte sind es nicht, Woran die Wespen nagen.'”


1896 Leo Berg
“Am wenigsten verzeiht und versteht Schiller die gewiss nicht makellose. aber prächtige Liebeslyrik Bürgers, die weder unkeusch noch gemeinsinnlich ist, die schon durch ihren hohen formalen Reiz, ihre blühende Phantasie, ihre männlich-erotische Liebenswürdigkeit und ihren lebendigen fast modernen Empfindungsreichtum über alle Gemeinheit hoch erhaben ist, und die eine fast noch gar nicht begriffene Bedeutung für die Entwicklung der modernen Lyrik gehabt hat. An Rhytmik, Melodik, Intimität der Stimmung und Seelenmalerei und an Feinheit der Technik stehen einzelne Lieder fast unerreicht da und mussten, ehe die Romantiker der deutschen Prosodik ihre Geschmeidigkeit gaben, fast wie eine Offenbarung wirken. Schiller scheint hierfür kein Gefühl gehabt zu haben. Seltsam genug ist es immer und muss gemerkt werden, dass er, der sich in der Rhytmik mit Bürger gar nicht messen durfte, der nie eine so virtuose Behandlung des deutschen Verses heraus hatte wie Bürger, der ja im wild Leidenschaftlich-Dramatischen wie im Lyrisch-Weichen unerreichbar war, ihm sogar unechte Reime, ‘entstellende Bilder’, ‘unnützen Wörterprunk’ und ‘harte Verse’ vorwerfen konnte....”

1898 Edgar Steiger
"Rückkehr zur Natur, Bewunderung der alten Griechen, Verehrung Shakespeares als des größten Vorbildes deutscher Dichtung — das war der große Dreiklang, in den alles Dichten und Trachten der Stürmer und Dränger des vorigen Jahrhunderts ausmündete. Bürger war einer der Wenigen, der die Phrasen jener Tage in Thaten umsetzte, aber er war zugleich der einzige, der mit der Wünschelruthe des Genius die vergrabenen Schätze der Volkspoesie entdeckte, nicht etwa nur, um sie, wie Herder, zu sammeln und aufzuspeichern, nein, um das gefundene Gold in der eigenen Münze neu zu prägen. Der Volkston der Kunstdichtung ward durch ihn entdeckt, die bewußte Versenkung des Kulturmenschen in die Wunderwelt der Sage und der Ahnungen und die Neugestaltung dieser Wunderwelt im Liede. So wurde Bürger der Schöpfer der deutschen Ballade — nicht in dem Sinne der bekannten Schiller'schen Schulgedichte, in denen alle wundersamen Begebenheiten nur um der angehängten Moral willen erzählt werden, sondern im Sinne Goethe'scher Naturpoesie, in der alles Vergängliche von selbst zum Gleichniß wird, in der der Sagenstoff nicht bloß Mittel zu höheren moralischen Zwecken, sondern das A und O der ganzen Dichtung ist. Darum packen uns Balladen wie die Lenore, das Pfarrerstöchterlein von Taubenheim, der wilde Jäger, Kaiser und Abt, das Lied vom braven Mann, trotz einer gewissen Breite der Schilderung und einzelner rhetorischen Ueberschwänglichkeiten heute noch, als wären sie erst gestern gedichtet worden. Denn Alles ist hier geschaut, nichts gemacht und gekünstelt, und selbst die Weitschweifigkeit und ein gewisser Wortbombast, der oft mit unterläuft, stören uns kaum, denn sie erinnern unwillkürlich an die Geschwätzigkeit mancher Volkslieder."

1898 Konversations-Lexikon
“Im eigentlichen Liede, wo er sich dem Volkstone nähert und sich nicht, wie im ´Hohen Lied´ oder in der ´Nachtfeier der Venus´, mit Rhetorik und rhythmischem Glanze begnügt, steht B. den besten Dichtern gleich. Seine Liebesgedichte, obschon sie die Liebe mehr in ihrem sinnlichen Gehalt als in ihren zarten Tiefen und geistigen Elementen erfassen, sind oft hinreißend durch den klangvollen Strom der Worte und die leidenschaftliche Glut des Gefühls. Er zuerst wieder ließ alle Empfindungen des Herzens in seinen Versen zu völlig ungekünstelten, ehrlichen und doch poetisch vollendetem Ausdruck gelangen. B. ist als Mitschöpfer der neudeutschen Dichtersprache zu betrachten.”
 
1898 Gustav Macasy
“Gottfried August Bürger.
Gedenkblatt zur hundertfünfzigsten Wiederkehr seines Geburtstages.
Die Wogen des ‘Sturmes und Dranges’ hatten sich gelegt. Die deutsche Dichtkunst hatte sich freigerungen von den Fesseln mittelalterlicher, wunderlicher Regeln einerseits, französischer Künstelei andererseits. Mit dem Beginn der Neuzeit war eine Renaissance durch das gesammte Kunstleben gegangen, an der die Dichtkunst am spätesten theilnehmen sollte. Aber um die Mitte des vorigen Jahrhunderts begann auch hier der Umschwung. Die Natur, die man fast vergessen hatte, sollte in der Poesie wieder zur Geltung kommen, die Persönlichkeit, die das Neue in der Außenwelt schauen und wiedergeben lernte, nicht nach steifen Gesetzen, sondern in freier, selbst geschaffener Form, sollte wieder ihre Rechte erhalten. Von der Bühne herab sprachen nicht mehr die plumpen Hanswurstiaden und ledernen Haupt-und Staatsaktionen, sondern das echte, psychologische Drama, wie es Shakespeare, das Vorbild der Stürmer und Dränger, geschaffen hatte. Und in der Lyrik sprach nicht mehr das hohle Pathos erkünstelter Gefühle, sondern die einfache Innigkeit und Wirklichkeit eines künstlerischen Seelenlebens. Dies waren die Ziele des ‘Sturmes und Dranges’ gewesen, aus welchem sich die große klassische Periode der deutschen Dichtkunst entwickelte, bis zuletzt von dem breiten, überschäumenden Strome nichts übrigblieb, als das dürre Wässerlein eines falschen Idealismus, dessen Schöpfer Schiller war und dessen Nachbeter und Nachahmer noch über die Romantik hinaus bis tief in die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts ihr kärgliches Dasein fristeten.
Einer der eifrigsten Vorkämpfer und der letzte Vertreter des Sturmes und Dranges war Gottfried August Bürger. In ihm kamen die Hauptmomente dieser Kampfperiode der Dichtkunst zur Geltung: der neue, ursprüngliche Realismus, der die Kunst nicht von der Natur trennt, sie nicht über die Natur stellt, sondern Kunst und Kunstempfinden aus der Natur und der Anschauung der Natur entwickelt. Und zweitens die Individualität, die zu ihrer Bethätigung der freien Entfaltung bedarf, die sich nicht in vorgeschriebenen Kunstbahnen bewegen kann, sondern sich ihre Bahn selbst zeichnet. Daher der gewaltige Unterschied in den Gedichten eines Realisten, wie Bürger, und eines Idealisten, etwa Schillers. Dort die freie, klare Form, die Knappheit der Gedanken und Gefühle, die Ursprünglichkeit des Ausdruckes: hier schwere, einengende Formen, Breite und Weitschweifigkeit der Bilder und Vergleiche, welche die fehlende Natürlichkeit ersetzen müssen, und Vergewaltigung des Ausdruckes. Dort der Dichter, der die Schönheit in der Außenwelt und in sich sieht und zur Schönheit der Kunst macht, hier der Dichter, der die Natur in ein vorgefaßtes Schönheitsideal hinein zwängt, um sie als Gegenstand der Kunst gebrauchen zu können. — Darum erscheinen uns viele, ja die meisten Gedichte Bürgers, zumal seine kurzen Liebeslieder und großen Balladen, trotz ihres Alters noch heute so verwandt und innig, als ob sie aus dem Born der Moderne geschöpft wären, während uns die Gedichte Schillers mit ihrer breiten Sprachverschwendung, ihrem hohlen Pathos fremd, ja lächerlich vorkommen.”

1903 Karl Eugen Dühring
“Nach unserm Urtheil ist Bürger der wahrste und bedeutendste Liebeslyriker, den die Deutschen, ja den vielleicht überhaupt das 18. und 19. Jahrhundert zusammengenommen aufzuweisen haben. Die gleiche Kraft und der gleiche Wirklichkeitssinn, gepaart mit der gleichen Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit, sind in diesem Gebiet, soweit mir bekannt, in der ganzen Geschichte und Welt von Niemand sonst vertreten.”

1905 Meyers Großes Konversations-Lexikon
“namhafter deutscher Dichter, geb. in der Silvesternacht 1747/48 in Molmerswende bei Ballenstedt am Unterharz. [...] B. war klein und hager, die Gesichtszüge waren zu groß für seine Gestalt, aber Stirn und Nase kühn, und durch die schönen Augen schimmerte der schaffende Dichtergeist. Gesellige Gewandtheit ging ihm ab, und seinem Charakter fehlte bei einem hohen Grad von Herzensgüte die Willensstärke. Bürgers Dichtertalent gedieh nur langsam zur Entwickelung, wesentlich gefördert durch die kritische Strenge seines Freundes Boie und insbes. durch die Berücksichtigung volkstümlicher Muster. Die Wärme seiner Empfindung, die unmittelbaren und ergreifenden Naturtöne der Innerlichkeit, die Weichheit und zugleich die Kraft des Ausdrucks, die Mannigfaltigkeit der Formen, die er beherrschte, stempeln ihn zu einem der größten deutschen Lyriker, wenn auch Schillers Vorwurf, ihm fehle der ideale Begriff von Liebe und Schönheit, nicht ganz unberechtigt ist. Neben seinen lyrischen Gedichten wurden vor allem seine erzählenden Gedichte im Volkston berühmt.”

1905 Erich Walter
“Das harte Urteil, das Friedrich Schiller über Bürger als Dichter und die Welt über Bürger als Menschen fällte, sah man als unumstößlich an, als Bürger im 46. Jahre seines Lebens, frühzeitig durch seelische Qualen gebrochen, aus der Welt schied, und lange, lange hat es gedauert, bis die Welt ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen sollte. Aber bei aller Hochachtung und Verehrung für den als Menschen und Gesamterscheinung unendlich viel größeren und harmonischen Schiller muß man heut doch sagen, daß sowohl sein Urteil als das des Herrn ´tout-le-monde´ nicht stichhaltig sind. Das der Herren ´Schnick und Schnack´, wie sie Bürger selbst genannt hat, ist eigentlich nicht der Ehre wert, ernsthaft kritisiert zu werden.”

1908 Herbert von Berger
“Bürgers Balladen, die drei großen wie die späteren, sind die populärsten Dichtungen, die wir Deutschen in vollendeter Form besitzen. Populär nicht in dem Sinne, daß sie dem Gebildeten nichts sein können. - Der Arbeiter kann am Herd den Seinen diese Gedichte vorlesen und der Gebildete, wie er sich nennt, muß von seinem Schloß niedersteigen in die grünen Wiesen und heimkehren zum Ursprung wahrster Poesie, - dahin, wo der Dichter noch nichts weiß von Gedanken-Problemen, denen er Gestalten erringen will, nichts weiß von den Mauern, die der Verstand um die naive Seele baut, wo der Sänger zur Laute erzählt: den Totenritt, die Mär vom wilden Jäger und vom Pfarrerstöchterlein, des armen Suschens Traum, das Lied vom braven Mann, den Spaß vom Kaiser und dem Abt – und alle die andern.”

1908 Brockhaus Konversations-Lexikon. Leipzig.
“Der allgemeine Beifall, der B.s Balladen, wie ´Lenore´, sein Meisterwerk, ´Lenardo und Blandine´, ´Des Pfarrers Tochter von Taubenhain´, ´Der wilde Jäger´, ´Das Lied vom braven Mann´, ´Der Kaiser und der Abt´, ´Das Lied von Treue´, ´Die Kuh´ und andere teils nachgebildete, teils erfundene, empfing, beweist, daß er zuerst den richtigen Weg einschlug, um die engl. Balladenpoesie in Deutschland einzubürgern; in andern Balladen gefällt er sich in einem gesucht burlesken Ton (´Der Raubgraf´, ´Die Weiber von Weinsberg´, ´Frau Schnips´). Im eigentlichen Liede, wo er sich dem Volkstone nähert und sich nicht, wie im ´Hohen Liede´ oder in der ´Nachtfeier der Venus´, mit Rhetorik und rhytmischem Glanze begnügt, steht B. den besten Dichtern gleich. Seine Liebesgedichte, obschon sie die Liebe mehr in ihrem sinnlichen Gehalt als in ihren zarten Tiefen und geistigen Elementen erfassen, sind oft hinreißend durch den klangvollen Strom der Worte und die leidenschaftliche Glut des Gefühls. Er zuerst wieder ließ alle Empfindungen des Herzens in seinen Versen zu völlig ungekünstelten, ehrlichem und doch poetisch vollendetem Ausdruck gelangen. B. ist als Mitschöpfer der neudeutschen Dichtersprache zu betrachten. Fast überängstlich auf Korrektheit und Wohllaut des Verses haltend [...] hat er auch fremdländische poet. Formen, wie das Sonett, in Deutschland neu zu Ehren gebracht; seine Sonette gehören zu den besten in deutscher Sprache; der glänzende Formkünstler Aug. Wilh. Schlegel war sein Jünger.”

1909 H. V. Wellberger [d.i. Hanns Heinz Ewers],
“Am meisten hat ihn wohl Schillers Kritik gekränkt, in der es u.a. heißt: ´Man vermißt bei dem größten Teil der Bürgerschen Gedichte den milden, sich immer gleichen, immer hellen, männlichen Geist, der eingeweiht in die Mysterien des Schönen, Edlen und Wahren, zu dem Volke bildend hinabsteigt, aber auch in der vertrautesten Gemeinschaft mit demselben nie seine himmlische Abkunft verleugnet.´ Und diese lächerliche, von abgeschmackten, verlogenen Phrasen strotzende Kritik schrieb derselbe Schiller, der die ´Räuber´ schrieb! Auch in späterer Zeit ließ man Bürger selten Gerechtigkeit widerfahren; bis zu unseren Tagen haben alle Moralphilister mit frechen Nasen das Familienleben des großen Dichters durchgeschnüffelt und daraus den echt pfäffischen Schluß gezogen, daß auch in seiner Dichtung Bürger - weil unmoralisch - nicht zu werten sei! Geradezu ein Muster an widerlicher Moralheuchelei ist in dieser Beziehung der Aufsatz in der leider so weitverbreiteten, unsäglich verlogenen Literaturgeschichte von R. König. Es ist nichtswürdig, irgendeines Künstlers Werke nach seinem Privatleben zu beurteilen, und doch ist es gang und gäbe in den meisten unserer sogenannten volkstümlichen Literaturgeschichten.”
 

1909 Ernst Consentius
Schillers Ansichten waren damals im Fluß. Der Realist, der er in seiner Jugend gewesen, wandelte sich zum Idealisten. Schillers Anfänge hatten mit unter dem starken Einfluß Bürgers gestanden. Mit dem Übereifer des Renegaten wandte sich nun der zum Idealismus Bekehrte gegen den früher auch von ihm gepflegten Naturalismus. Darauf deutet seine Rezension selbst hin. Der Eifer gab Schillers Urteil das Harte und Schroffe, das Unversöhnliche und nahm ihm - wo er nur den eigenen Weg vor Augen hatte - den weiten, ruhigen Ausblick. Dieser Philosoph konnte seinen eigenen Standpunkt nicht aufgeben, konnte sich von dem Glauben: nur seine Theorie von der Kunst sei die allein richtige, nicht trennen. Also nahm er den von seinen neugebildeten Ideeen hergeleiteten Maßstab, einen anderen hatte er nicht, um Bürgers Gedichte daran zu messen. Einseitigkeit machte Schiller blind. Diese Ungerechtigkeit seines Urteils sah Schiller nicht einmal. Wie er nun war, sollte auch der andere werden! Schiller gab in jener berühmten Rezension das Programm seiner eigenen philosophischen Lyrik. Was hat das aber im Ernste mit Bürgers Gedichten, die er rezensierte, zu tun?


1911 Edwin Hoernle
“Wie einst Luther, so ging auch Bürger unter die Linden des Dorfes auf die Bleichen und in die Spinnstuben, um der Sprache und den Liedern des Volkes zu lauschen. Echt volkstümlich ist Bürgers Tonmalerei, die packende Anschaulichkeit seiner Bilder, die lebhaften Zwiegespräche, die charakteristischen Ausrufe. Man hört bei ihm wirklich das Spinnrad surren, die Hunde bellen, die Peitschen knallen. In hastigen, kurzen Silben reden die Leidenschaften, in langen, ruhigen redet die Schwermut. Man muß Bürgers Gedichte deklamieren, um sie recht zu würdigen. Auch der Humor kam bei Bürger zu seinem Recht, wie ´Die Weiber von Weinsberg´, ´Frau Schnips´, ´Der Kaiser und der Abt´ beweisen, welch innerer Zartheit aber dieser Mann neben der leidenschaftlichen Glut fähig war, das zeigen seine Lieder an Molly.”
 

1923 K. Schmidt

“Die männliche Art, in der Bürger sich mit dem Schicksal abfand, die kraftvolle Natur, die trotz der Tagesmeinung gegen Tyrannei und Cant vorstieß, war wie Befreiung. Er läßt den geplagten Bauer gegen den Absolutismus und Herrenrecht auftreten: Wer bist du, Fürst... Du nicht von Gott, Tyran...“, oder prägt das Wort, daß sich der Hochmut der Großen gäbe, wenn sich die Kriecherei verlöre.
Man macht sich heute keine Vorstellung von der Kläglichkeit des bürgerlichen und politischen Lebens, in das Bürger hineingestellt wurde, das ihn zerbrach, das aber gleichzeitig seine politische Nährmutter wurde.”
 


1925 Emil Ermatinger
“In dem Gedichte ´Das vergnügte Leben´ hat Bürger eine Art Lebensideal besungen. Der Geist muß denken. Das Herz muß lieben. Also lustige Gesellschaft, wo man über einen Witz lachen kann, gutes Essen und nachts ein Weibchen. Auch er gehört mit dem Grunde seines Charakters noch zu jenem Geschlechte der Aufklärer, in dem Verstand und Empfindung getrennt nebeneinander hingingen. [...] Keine Frage, eine große und ursprüngliche Kraft arbeitete in ihm. Gedichte wie ´Lenore´ und manche Sonette bringt kein bloßes Talent hervor. Aber diese Kraft wirkte zu sehr als rohe Gewalt. Bürger mochte sich der Natur vergleichen, die aus dem gleichen Schoße die mannigfaltigsten Geschöpfe hervorbringt. Aber bildet ihr unendlicher Reichtum nicht doch eine Kette der reinsten Harmonie? Bürgers Mannigfaltigkeit dagegen ist nicht Reichtum, der einem einzigen Quell entspringt, sondern Zerstreutheit, wahlloses Ausgießen einer nicht in sich geeinigten Person. Wer vermutete, daß der Dichter, der die derbe Bänkelsängerei von der Frau Schnips verfertigte, die wie ein Fischweib alle Himmlischen abkanzelt, Gedichte geschaffen hat, wie das kunstvolle und zugleich von tiefen Gefühl durchglühte Sonett ´An das Herz´?
In seiner berühmten Rezension der zweiten Auflage von Bürgers Gedichten von 1789 (In der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung) hat Schiller Bürger vor den höchsten Richterstuhl geladen und verurteilt. Was für ein spannendes, zugleich erhebendes und bedrückendes Schauspiel! Nicht nur zwei Persönlichkeiten, zwei Weltanschauungen, zwei Zeiten stehen sich gegenüber! Dem zwölf Jahre jüngeren Richter drückt nicht Anmaßung oder Zufall den Stab in die Hand, sondern das sittliche Recht und die innere Nötigung der Persönlichkeit, die in schonungslosen Kämpfen das eigene Ich zur klaren Größe klassischer Ausgeglichenheit emporzutragen strebte. Darnach formt er den Maßstab seines Urteils. Der Dichter soll der Inbegriff der ganzen sittlich-ästhetischen Bildung der Zeit sein, sein Werk ein Spiegel, der sie, geläutert und veredelt, in sich sammelt und mit idealisierender Kunst zum Muster erhebt. Bloßes Talent kann den Mangel an sittlicher Reife nicht ersetzen. Der Mangel, den Schiller daher an dem älteren Dichter findet, ist das ausgebrannte Stück seines eigenen Selbst: Bürger gebricht die geistige Klarheit, die sittliche Reife der geschlossenen Persönlichkeit, seinem Werke die künstlerische Größe und Harmonie.”

1926 Herbert Cysarz
“Goethe endlich erwirbt das höchste Gut der Erdenkinder, im Zeichen der Hellenen. Den Griechen gilt Persönlichkeit als Göttliches, und ihre Götter sind Bilder lautersten Menschentums: Ein künstlerischer Kult des Wesentlichen! Das bleibt der Leitstern auch der Klassik: Persönlichkeit statt nur interessanter Individualität, Norm statt Apartheit und Bizarrerie! In Schillers Bürger-Rezension tritt dieser klassische Persönlichkeitsbegriff am schroffsten gegen seine Widersacher: das Laute, das Plumpe, das Grelle, das Gleissende, das Rührende. Auch Goethes Abwehr des Romantischen als eines Kranken richtet sich gegen die Pflege des Interessanten, Exzentrischen, Phantastischen.”

1928 Max Kommerell
“Dadurch daß in aller Dichtung ein verantwortlicher Wille, eine Maß setzende Gesinnung wirksam ist, steht die engere Klassik abseits von jeder andern dichterischen Bewegung in Deutschland. Beide Führer waren auf getrennten Wegen dazu gedrungen, beide hatten sich darin gefunden: daß das Werk des Dichters keine Willkürschöpfung von Traum und Gedanken noch auch Nachbildung des Wirklichen sei - sie ist die geistig erscheinende Form des in sich gerundeten Menschseins. Von diesem Begriff aus empfängt die Dichtung den hohen menschenbildenden Wert und wenn sich so ihre Würde über Weltweisheit Glaubens- und Sittenlehre erhöht (Zorn aller auf die ´unbedingten´ Werte Gerichteten) so wurde auch das Höchste von ihr gefordert: weder die reine Fertigkeit, weder das verjährt Süßliche noch das volkstümelnd Biderbe konnte vor diesem Anspruch bestehen und eine Reihe von Ablehnungen - sie beginnt mit Bürger und endet mit Kleist - bestätigt die beinah staatsmännische Strenge, mit der er aufrechterhalten wurde.
 Wie jeder verpflichtende Begriff schloß auch dieser andersgerichtetes Leben aus und verdrängte es wo es nicht edel genug war, eigenen Gesetzes versichert zu sein oder nicht stark genug, sein Anrecht gegen das fremde Anrecht zu wahren.”

1939 Walter Abendroth
“Ja, in der Tat war Bürger kein Idealisierer - sein oberstes Kunstgesetz war Lebenswahrheit und Gefühlsechtheit; in der Tat auch war Bürger unbewußt und bewußt ‘populär’; in der Tat bezog seine Kunst auch ‘das Platte’ ein - wenn wir dieses Wort verstehen im Sinne der Volksetymologie, im Sinne des stammeseigenen, bodenständigen, volkstümlichen Sprachgebrauchs. Und dieser Gesamterscheinung standen Wesen und Wollen des weltumspannenden Geistes, des dichtenden Philosophen, des absoluten Ästheten, der Schiller außer- und oberhalb seiner stärksten künstlerischen Leistung als pathetischer Dramatiker und theatralische Gestalter aus dem Großen war, so fern, wie sich nur denken läßt. Darin, daß Schiller das, was er ‘das Platte’ nannte, sozusagen moralisch auffaßte oder mit dem Banalen gleichsetzte, daß überhaupt in seiner Begriffswelt ‘Volk’ in erster Linie eine niedere Schicht, einen geringen Stand bedeutete, darin war er durchaus noch ein Kind seines Jahrhunderts, das zwar seit Rousseau gern mit ‘Natur’ und Bäuerlichkeit kokettierte, doch nur unter der Voraussetzung, daß es sich dabei um ‘Rückkehr’, also um ein gewolltes Spiel handelte, nicht im Ursprung, um legitime Zugehörigkeit und naturgegebene Notwendigkeit. Darin aber, daß Schiller das ‘Idealisieren’ und Abstrahieren als conditio sine qua non des beglaubigten Dichtertums ansah, darin widersprachen ihm schon manche sehr beachtenswerte Geister seiner eigenen Zeit mit Wort und Tat.”

1944 Ernst W. Neumann
"Bürgers Gedichte sind unvergänglich. Seine 'Lenore' hat bis auf den heutigen Tag an ihrer Wirksamkeit und Kraft noch nichts eingebüßt. Die Tragödie seines persönlichen Schicksals hat die Ausschöpfung seiner großen Begabung verhindert. Seine innere Zerwühltheit, das Zerwürfnis mit sich selbst, vor allem aber die Beherrschung des Ichs, die ihm anscheinend ganz fehlte, unterband die anhaltende schöpferische Tätigkeit. Was er schrieb, warf er hin: selten raffte er sich zu einer größeren Arbeit auf. Ihm fehlte die Ausdauer, und diese war schon zu seiner Zeit notwendig, um sich als Schriftsteller durchzusetzen. An der Begabung hat es nicht gefehlt, aber an der Lenkung, an dem vorgezeichneten Weg, an der Richtung."

 

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