1948 Walter Muschg
“In der Kunst bedeutet dieses Vollkommenheitsbewußtsein unfruchtbare Erstarrung, auch wenn es nicht in pharisäischen Dünkel ausartet. Jeder seherische Dichter, der sich auf eine Offenbarung beruft, läuft Gefahr, auf die Dauer so zu versteinern. Deutschland, das Land des Theologenhochmuts und des Kirchenstreits, hat diesen Typus auch in der Literatur besonders erfolgreich am Werk gesehen. Alle Macht ist böse und entsteht durch Schuld. Auch die Machtstellung, die Goethe und Schiller für sich eroberten, machte davon keine Ausnahme. Nachdem sie sich einmal verstanden, erwies sich der priesterliche Schiller als der geniale Hüter und Mehrer ihres Reiches. Er hatte den strategischen Blick und die unermüdliche Freude am Kampf. Schon auf dem Weg zu Goethe war er vor keiner geistigen Gewalttat zurückgeschreckt. Eine der schlimmsten war die Rezension, mit der er Bürger, den Dichter der «Lenore», als ein Goethe wohlgefälliges Opfer abschlachtete. Es war die eigene revolutionäre Vergangenheit, von der er sich mit diesem Meisterwerk an Scharfsinn und Bosheit lossagte, aber Bürger blieb dabei mit seiner Person und seinem Ruhm auf der Strecke. So gewaltsam ging es in Schillers ganzem Leben zu.”

1967 Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller von den Anfängen bis zur Gegenwart
“B., dessen konsequent demokratisch-plebejische Haltung wie seine Begeisterung für die Französische Revolution bekannt waren, wurde, da er nicht von der Gnade der Fürsten leben wollte, ein Opfer der elenden dt. Zustände. Er lebte von Übersetzungen für Verleger und als Redakteur des ´Deutschen Musenalmanachs´ (1779/94).[...] B. war einer der stärksten und ursprünglichsten Lyriker des 18. Jh., der sich nicht scheute, seine Dichtung in den Dienst seiner politischen Gesinnung zu stellen (´Der Bauer an seinen durchlauchtigen Tyrannen´, ´Für wen, du gutes deutsches Volk . ..´). Seine überragende Leistung liegt auf dem Gebiet der volkstümlichen Ballade, die er unter dem Einfluß Herders und der engl. Volkspoesie schuf. Mit ´Lenore´, ´Der wilde Jäger´, ´Der Raubgraf´, ´Das Lied vom braven Mann´, ´Des Pfarrers Tochter von Taubenhain´ u. a. gelangen ihm weitverbreitete, populäre Dichtungen, die sich durch ihren antifeudalistischen und volksverbundenen Charakter, durch realistische Darstellungskraft, leidenschaftliche Anteilnahme und Formvollendung (Spannung, Stimmungs- und Lautmalerei, volkstümliche Wendungen, erregender Rhythmus) auszeichnen. B. verstand Lyrik als persönliches Bekenntnis, als Ausdruck innerer Bewegtheit (vgl. z. B. die ´Molly-Lieder´), was u. a. in Schillers berühmter Rezension (1791) vom Standpunkt des klassischen Kunstideals getadelt wurde. B.s zum Volksbuch gewordener ´Münchhausen´ (1785), eine köstliche Satire auf den Adel, die er anhand von zwei Vorlagen aus dem Engl. des R. E. Raspe zurückübersetzte und insgesamt um etwa ein Drittel erweiterte, gehört neben seiner Lyrik zu seinen fortlebenden poetischen Werken.”

1968 MEYERS KLEINES LEXIKON
“Plebej.-demokrat. Schriftsteller des Sturm und Drang; war beispielgebend für die volkstüml. deutsche Balladendichtung (´Das Lied vom braven Manne´, ´Lenore´). B., der sich für die Französ. Revolution begeisterte, kämpfte in Gedichten und Prosaschriften gegen die Tyrannenherrschaft. Seine Bearbeitung der satir., gegen den Adel gerichteten ´Wunderbaren Reisen des Freiherrn von Münchhausen´ (1786) wurde ein vielgelesenes Volksbuch.”

1974 Klaus L. Berghahn
“Indem die Klassiker nämlich gegen die Unterhaltungsliteratur und den Lesepöbel ästhetisch zu Felde zogen und aus der Diskriminierung ihre eigene Ästhetik entwickelten, die weitgehend am literarischen Geschmack eines exklusiven Kreises orientiert war, verloren sie breiteste Leserschichten und damit die Möglichkeit, eine echt volkstümliche Kultur vorzubereiten. Eine solche These mag überraschen, gilt Schiller doch als der ´Zeitgenosse aller Epochen´, der immer wieder als volkstümlich gerühmt wird. Hat er nicht selbst ein für allemal in der Bürgerrezension festgelegt, was volkstümliche Dichtung zu sein habe? Doch sei man vorsichtig, sich gegen den naiven Bürger vorschnell auf die Seite Schillers zu schlagen, ohne recht zu wissen, für welch herablassende Volkstümlichkeit man sich da entscheidet.”

1976 Klaus F, Gille
“Das rational fundierte Laienurteil, das in der Frühaufklärung jedermann zugestanden wird, wird im weiteren Verlauf des Jahrhunderts auf das klassengebundene Kunstgefühl eingeengt. Illustriert wird diese Entwicklung etwa durch die Polemik des Baumgarten-Schülers Georg Friedrich Meier (1746), der sich gegen das ‘Vorurteil’ wendet, ‘ein jeder, der gesunden Verstand hat, müsse vermögend seyn ein Gedicht zu verstehen’. Bürger, einer der Exponenten der plebejischen Unterströmung der Aufklärung, bewahrt dieses ‘Vorurteil’. Gegen ihn, der die Gemeinverständlichkeit zum leitenden Prinzip und Wertmaßstab der Dichtung erklärt, richtet sich schon in der Frühzeit seines Auftretens der Literaturpapst Friedrich Nicolai.”

1976 Helmut Koopmann
“Für Bürger liegen die ästhetischen Maßstäbe nicht in einer allgemeinen Gesetzlichkeit, sondern im jeweiligen Literaturwerk selbst. Es ist nichts Geringeres als die Auflösung der Ästhetik des 18. Jahrhunderts, die sich hier ankündigt, der Einzug neuer Wertungskriterien, die Ahnung dessen, daß die Zeit allgemeiner Kunstregeln und einer fraglosen Kunstrichterei vorbei sei. Mit Schillers Bürger-Rezension endigt eigentlich schon die Ära einer Kritik nach unbezweifelbaren Grundsätzen und den ‘Grundbegriffen des Vollkommnen und Schönen’, Und die Epoche, in der literarische Wertung zum Problem werden sollte, beginnt.”

1983 Walter Müller-Seidel
“Er [Bürger] hat wie andere ein Anrecht darauf, daß man seinem eigenen Stil gerecht wird. Wenn sich indessen der eigene Stil überlebt hat, wird die Individualität zur privaten Individualität, die zur Kritik herausfordert - wie es hier geschieht. Dabei sollte man den Dichter nicht ganz so unbesehen überschätzen, wie es üblich ist, wenn man ihn gegen Schiller verteidigt. Es gibt in Bürgers Lyrik sehr viel Unvollkommenes und Unfertiges, und es fällt nicht einmal leicht, die vollkommenen Gedichte zu bezeichnen, die man ohne Vorbehalt in unsere beliebten Blütenlesen aufnehmen darf - in jene, die bemüht sind, jeweils das Beste vom Besten zu bringen. Das trifft in erster Linie für die reine Lyrik zu, aber mit der Ballade verhält es sich nicht wesentlich anders. In einer Auswahl aus neuerer Zeit ist einzig die Lenore vertreten, und wer eine derart bescheidene Auswahl ungerecht findet, muß begründen, warum er anderes vermißt. Die guten Gedichte Bürgers sind nicht so zahlreich, wie diejenigen vorgeben, die den großen Dichter manchmal mit allzu bewegten Worten vor dem abstrakten Theoretiker in Schutz nehmen - als sei Theorie eine Sünde wider den Geist der Poesie.”

1987 LEXIKON deutschsprachiger Schriftsteller, Leipzig
“B., dessen konsequent demokratisch-plebejische Haltung wie seine Begeisterung für die Frz. Revolution bekannt waren (1790 Freimaurerrede Ermunterung zur Freiheit), fristete - ständig in materiellen Schwierigkeiten - seinen Lebensunterhalt durch Übersetzungen und als Redakteur des ‘Dt. Musenalmanachs’ (1779/94); nach einem Hungerdasein starb er an der Schwindsucht. - B., einer der stärksten und ursprünglichsten Lyriker des 18. Jh., löste sich schon früh von religiöser Einengung und herrschendem Tugendrigorismus (z. B. des Göttinger der Hains). Aus seiner sinnlich-realistischen Grundhaltung resultiert die bedingungslose Hinwendung zur Wirklichkeit, vor allem in der Liebeslyrik. Frei von asketisch-moralisierenden und religiösen Tendenzen, sind B.s Molly-Lieder bekenntnishafter Ausdruck innerer Bewegtheit und wie sein Danklied (1772), das die volkstümliche Sprache protestantischer Kirchenlieder umfunktioniert, bezeichnend für Diesseitigkeit und Sinnenfreude. Aus seinen düsteren Erfahrungen der Amtmannszeit erwuchs das revolutionäre Rollengedicht Der Bauer. An seinen durchlauchtigen Tyrannen (e. 1773/75). Nach 1789 nahm B. Ideen der Frz. Revolution in seine politische Lyrik auf (Die Tode, 1792) und weitete die Entlarvung des fürstlichen Despotismus zur nationalen Aufgabe (Für wen, du gutes deutsches Volk ... , 1793). Seine überragende poetische Leistung sind volkstümliche Balladen, die - Motive des Volksliedes und der Volkssage aufgreifend und ihren sozialen Bezug meist aktualisierend - unter dem Einfluß Herders und des englischen Dichters Percy entstanden. Mit Lenore (e. 1773), Der Raubgraf (1776), [...], Der wilde Jäger (1786) u.a. schrieb B. Dichtungen, die sich durch ihren antifeudal-volksverbundenen Charakter, realistische Darstellungskraft, leidenschaftliche Anteilnahme und vollendete Technik (Spannung, Stimmungs- und Lautmalerei, erregender Rhythmus) auszeichnen. Eine überzeugende theoretische Darlegung seiner neuen dichterischen Position gelang B., der die Popularität der Kunst zur höchsten Forderung erhob (Über Volkspoesie, Aus Daniel Wunderlichs Buch, 1776), jedoch nicht. Schiller hat, ohne B.s Leistung historisch voll gerecht zu werden, in seiner kritischen Auseinandersetzung mit ihm (1791) aus der Sicht der klassischen Ästhetik eine Synthese von Popularität und höchster Kunstvollkommenheit formuliert. B.s Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande, Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen (1786, Ndr. 1981, erw. 1789), eine Satire auf den Adel, die er anhand von zwei Vorlagen in freundschaftlicher Zusammenarbeit mit Lichtenberg aus dem Engl. des Rudolf Erich Raspe (1737-1794) rückübersetzte und insgesamt um etwa ein Drittel erweiterte, wurden zu einem Volksbuch und gehören zu seinen fortlebenden poetischen Werken.”

1995 Joachim Bernauer
“Schiller stellt selbst die Frage: ‘Aber darf wohl diesem Maßstab auch ein Dichter unterworfen werden, der sich ausdrücklich als 'Volkssänger' ankündigt und Popularität [ ... ] zu seinem höchsten Gesetz macht?’ Es handelt sich natürlich um eine rhetorische Frage. Schiller benutzt Bürgers Begriffe nur, um sie mit kunstrichterlicher Souveränität nach seinen Vorstellungen umzudefinieren und Bürger nach dessen vermeintlich eigenem ‘höchsten Gesetz’ anklagen und verurteilen zu können.”

1997 Paul Raabe
“Er [Bürger] hatte noch erleben müssen, wie ihn einer der beiden Klassiker, Friedrich Schiller, in einer Rezension auf eine infame, unverzeihliche Weise wegen des volkstümlichen Stils seiner Gedichte und Balladen nicht nur abkanzelte, sondern zugleich moralisch vernichtete. [...] Aber in einem anderen Sinne ist Bürger ein ‘trauriges Beispiel’. Das Verdikt der Klassiker hat dazu beigetragen, daß dieser Dichter der Sturm- und Drangperiode, in der die Aufklärung zugleich in literarischer Hinsicht einen Höhepunkt hatte, nie den Platz in der deutschen Literaturgeschichte erhalten hat, der diesem genialen und zugleich unglücklichen Autor zukommt.”

1998 Peter von Matt
“Bürger hat das deutsche Gedicht zu einem Ereignis aller fünf Sinne gemacht. Wie das deutsche Theater vom sozialen Scharfblick Lenz', lebt der deutsche Vers bis heute von Bürgers melodischem Sensualismus - ob das die Dichterinnen und Dichter nun selber wissen oder nicht. Seine Balladen bliesen das literarische Rokoko mit einem einzigen Stoß ins Museum. Die ‘Lenore’, ein Gedicht, das nichts ist als ein trommelnder Ritt durch die Nacht, wirkte noch auf Goethe so obsessiv, daß er es sich mit einem zweiten Ritt durch die Nacht, dem ‘Erlkönig’, vom Leib schreiben mußte. Und Schiller debütierte in seiner ‘Anthologie auf das Jahr 1782’ als unverstellter Bürger-Epigone. Das wurde ihm dann später so peinlich, daß er den Vorgänger öffentlich exekutierte.”

1998 Gerhard Plumpe
“Was hält der philosophische Kritiker [Schiller] dem Dichter der Lenore nun aber vor? Seine Resonanz im Lesepublikum; sie ist es, die Schiller verdächtigt und auf ein ebenso erfolgreiches wie skandalöses Schreibprogramm zurückführt. Bürger habe bei den Leuten Erfolg, weil er ihre Erwartungen bediene, sie unterhalte und ihre Phantasie mit Pikantem stimuliere. [...] Das ist dem Philosophen - auch wenn es die Leute interessiert - natürlich zu wenig; die Literatur hat ´höhere´ Aufgaben: Ihr vornehmstes Ziel müsse es sein, das ´Ideal´ der Menschheit zu fassen, keineswegs aber in effekthascherischer Absicht etwa nur dessen Bestandteile - und dann noch die bloß ´sinnlichen´. Das der Poesie aufgegebene ´Ideal´ des Menschen aber ist das philosophische Phantasma einer Totalität, die aus der Gegenwart entschwunden ist.”

2001 Andreas Huyssen
“Wie sonst im Sturm und Drang nur noch Lenz wurde Bürger das Opfer einer Literaturbetrachtung, die ihre Vorurteile gegenüber dem radikalen Demokraten hinter moralischer Mißbilligung seines Lebenswandels und Kritik an seiner angeblich schlampigen Amtsführung versteckte. Die Vorwürfe des Disziplinmangels, des groben Naturalismus, der ausufernden Sinnlichkeit, die sich ebenso gegen die Dichtungen wie gegen den Menschen Bürger richteten, führten dazu, daß schließlich nur noch die Lenore als bedeutende poetische Leistung Bürgers anerkannt wurde. Paradoxerweise ließ gerade die in der Tat einmalige Perfektion der Lenore Bürgers übrige Balladen und Romanzen, seine Lieder und Sonette in Vergessenheit geraten.”

2005 Rolf Selbmann
“Zugespitzt formuliert ist die deutsche Klassik vor allem eine Erfindung ihrer Nachkommen. Keine Epoche wurde so häufig, so wirkungsvoll und so unhistorisch für die Ziele der jeweiligen Zeitgenossenschaft benutzt, verbogen und zurechtgestutzt.
[...] Nicht erst seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts erhob sich Ideologiekritik. Klassik galt als das fragwürdige Produkt einer unpolitischen, die sozialen Ungerechtigkeiten negierenden Privilegienkultur.”

 

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