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Triumph des Volksmäßigen – Bürgers Lenore

Dr. Klaus Damert

“Bürger was not, in fact, a single-poem poet; but to the world at large he is the poet of 'Lenore' and nothing else. The popularity of this famous deathride was immediate and lasting.”

        St. James's Gazette, London 13.2.1892

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    Geburtshaus des Dichters 1934.

     Sammlung Klaus Damert

 

Wenn man auf der A71 Sachsen-Anhalt verlässt, grüßen die Heroen der deutschen Literatur: Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller. Unwillkürlich fragt man sich, ob wir denen etwas entgegenzusetzen hätten - vielleicht deren Zeitgenossen und in Molmerswende geborenen Gottfried August Bürger, den wohl die meisten als Münchhausenautor kennen. Ein Studium der Literaturgeschichte macht wenig Hoffnung, denn dort erscheint Bürger vor allem als der Autor, der von Schiller geradezu vernichtet wurde: er sei ein unreifer Jüngling mit ungeschlachter, ungebildeter Individualität, der sich nicht selten mit dem Volk vermischt, zu dem er sich nur herablassen sollte - der so Kritisierte war damals Professor für Philosophie in Göttingen. Dabei war Schiller als erfolgloser Nachahmer des 10 Jahre älteren Bürger gestartet. Unterschiedlicher konnten die drei Protagonisten kaum sein: der Geheimrat Goethe, dem Umstürzler wie die Pariser Kommunarden ein Graus waren und Schiller, der der Meinung war, dass die Gesetze schon tugendhaft wären, nur noch nicht die Menschen: also musste man sie erziehen. Wie anders Bürger, der Immanuel Kant („Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“) verteidigte und über dessen Philosophie Vorlesungen hielt, die französische Revolution begrüßte und sich kompromisslos gegen Fürstenwillkür auflehnte. Als er 1773 mit der Schauer-Ballade Lenore die Kunstballade erfunden hatte war er sich deren Bedeutung bewusst: „alle, die nach mir Balladen machen, werden meine ungezweiffelten Vasallen seyn und ihren Ton von mir zu Lehn tragen.“ Goethes Erlkönig folgte erst 9, Schillers Der Handschuh 14 Jahre später.

   Wie reagierte das Publikum? Goethe mit seinem gigantischem Werk zieht im Alter eine ernüchternde Bilanz: „Von meinen eigenen Liedern was lebt denn? Es wird wohl eins und das andere einmal von einem hübschen Mädchen am Klavier gesungen, allein im eigentlichen Volke ist alles stille.“ Schillers Bekanntheit kam entgegen, dass er politisch brauchbar war und deshalb von Lehrern hoch geschätzt war. Doch Bürger? Hier sollte man die Literaturgeschichten durch weitere Quellen ergänzen. So gab im 19. Jhd. in England mehr als 30 unterschiedliche Übersetzungen der Lenore. Als sie im Herbst 1773 vollendet war, begann ein beispielloser Siegeszug quer durch alle Bevölkerungsschichten. Begünstigt wurde die Verbreitung durch die verwendete Sprache: die der Bibel und des protestantischen Gesangbuches, alles ordnet sich Bürgers Ziel unter: „Alle Poesie soll volksmäßig seyn; denn das ist das Siegel ihrer Vollkommenheit“. Auch die Tatsache, dass damals nur ein Bruchteil der Bevölkerung ausreichend lesen konnte und kaum Geld zum Kauf von Gedichtbänden zur Verfügung hatte, war nicht hinderlich. Während sich gebildete Kreise Gedichtbände, Raubdrucke waren billig, zulegten, lernten einfache Leute die Ballade trotz ihrer 32 Strophen auswendig – allein dadurch, dass sie vielerorts vorgetragen wurde. Hinzu kam, dass viele Komponisten den Wunsch nach Gesang dieser Ballade erfüllten. Das führte sogar zu einer neuen Kunstgattung: der durchkomponierten Ballade. Eine große Rolle spielten Liedflugschriften, die auf Jahrmärkten vertrieben wurden und Bänkelsänger, die neben mehr oder weniger erfundenen Unglücken und Schauergeschichten auch die Lenore vortrugen, was in den Annalen der Hamburgischen Litteratur von 1805 detailliert beschrieben wurde. Noch 1864 wusste der Pädagoge Hermann F. Kahle: „keines deutschen Dichters Werke mögen in dem Umfange und mit der Begier vom Volke auswendig gelernt worden sein, als die Bürgerschen.“ Allerdings fährt er fort: „was dem Volke frommt, das läßt sich aus ihnen freilich leider nicht lernen; in dieser Beziehung steht Claudius unendlich höher.“ Moralische Vorhaltungen gab es zu allen Zeiten, schon 1795 klagte Johann G. Heinzmann über die Tochter, „die einen Bürger, einen Musenalmanachsdichter, mit geiler Lust auswendig lernt, und laut hersagt, was ein gesittetes Frauenzimmer ehemals weder hören noch lesen wollte.“

    Für die fortwährende Popularität der Lenore sorgten parodistische Bearbeitungen, die sich jedoch nicht gegen das Werk richteten, sondern es für alle möglichen Anliegen nutzten. Man findet bis Mitte des 20. Jahrhunderts mehr als 600 Parodien, die meisten in Zeitungen und Zeitschriften – Literaturgeschichten ignorierten diese Entwicklung fast vollständig. Der Anfang wurde 1797, also drei Jahre nach Bürgers Tod, in England gemacht. Es erschienen drei Parodien mit stark erotischem Einschlag. In Deutschland folgte erst 1804: „Poetisch-prophetische Construction der Geschichte der Kantischen Philosophie, nebst einem geschwänzten Sonette, und einer neuesten Epoche in der deutschen Poesie.“  
   Parodien gibt es in vielen Formen. Einmal als eigenständiges Werk, mal mit Lenore-Bezug im Titel oder ohne. Selten war eine strophengenaue Nachdichtung wie „Die Fahrt nach der Brigittenau“ von 1836. Parodien im Dialekt gab es von 1832 bis 1932: drei jüdische, eine niederdeutsche, eine sächsische und eine plattdeutsche. Sehr viel häufiger waren sie Teil eines Werkes, z. B. eines Zeitungsartikels, und dienten dort zur Charakterisierung einer Handlung oder Meldung, werden oft propagandistisch eingesetzt. Beliebt sind Bildergeschichten, so zu Börsengeschäften wie z. B. „Schauderöse Abenteuer eines Coupons, oder: Die Schneeverwehung des Unionbank-Directors Minkus“ von 1875. Die meisten Parodien findet man in der Zeit von 1851 bis 1910 – also lange nach Bürgers Tod. Die Themenbereiche sind extrem vielfältig, fast kein Thema wird ausgespart. So berichtet 1847 die Allgemeine Zeitung über eine Ausgabe des Londoner Punch: „Da steht unter den ´Parlamentsgedichten´ eine nach Form und Inhalt wirklich meisterhafte Parodie: ´Die neue Lenore, nach Bürger´, illustrirt mit einem gleich trefflichen Holzschnitt.“ Eine Besonderheit sind Parodien, die zu Gerichtsverfahren führten, z. B. bezüglich der Mödlinger Schuhfabrik, über die 1888 berichtet wurde. Besonders prekäre Folgen hatte die Parodie „Hans Daniel fuhr ums Morgenroth“ von 1855, die sich gegen den Politiker Hassenpflug wandte. Der Buchdruckerei-Besitzer Hotop weigerte sich, den Autor dieses Gedichtes zu nennen. Ein Kriegsgericht verurteilte ihn zu dreimonatiger Festungshaft, anschließend erfolgte ein Berufsverbot.
    Politische Themen sind sehr häufig, so „Der deutsche Kaiser“ von Louise Dittmar 1851. Ebenso findet man viele unterhaltsame Parodien, die einfach nur die Art der Lenore nachahmen, wie z. B. „Der Automobilistensang“ von 1903, hier Strophe zwei:
Wie fliegen - ha - in Stücken rings
Die Rinder und die Schweine!
wie fliegen rechts, wie fliegen links
Die menschlichen Gebeine!
Die Huppe tutet: Hopp, hopp, hopp.
Fort geht's in sausendem Galopp,
Daß die Ventile fauchen
Und die pneumatics rauchen.

Die weitaus meisten Parodien hatten einen aktuellen Bezug zum Zeitgeschehen. So ging es 1824 um die Beobachtung eines Kometen: „Die Münchener Flora hat bei Gelegenheit dieses Kometen der dortigen Sternwarte das Epigramm angehängt: "Schläfst, Liebchen oder wachst du?" Schlagender noch wäre folgende Travestie aus Bürgers Leonore gewesen:
   Graut Liebchen auch? Der Mond scheint hell,
   Hurrah! Kometen laufen schnell!
   Graut Liebchen vor Kometen?
   "Uh - ah!*) - Laß die Kometen!"  *) Gähn-Interjection.
Über Kommunales berichtet 1884 der Figaro: „Da es sich herausstellt, daß alle Verwaltungszweige, welche die Gemeindewirthschaft betreffen, passiv sind und nur der Zentralfriedhof ein Erträgniß liefert, so kann die Wiener Kommunal-Verwaltung mit Bürger's 'Lenore' singen: Der Tod, der Tod ist mein Gewinn!“
Sehr treffend der Kommentar zum Boxeraufstand 1900:
A. : Ich denke, alle Europäer in China sind ermordet;
    und jetzt stehen sie schon wieder vor Peking?
B. : Nun ja: die Todten reiten schnell.

Besonders überraschend und bisher nicht thematisiert ist die Nutzung der Lenore für die Werbung. Verbreitet ist sie für Bekleidung von 1876 bis 1892, man findet sie in Dresden, Berlin, Hamburg, Siegburg, Friedberg und Gelsenkirchen. Das Muster ist immer gleich. Es beginnt z. B. mit
Leonore fuhr um's Morgenroth            Empor aus ihremBette,
Ihr Wilhelm war in großer Noth,

Ihm fehlte ein Jaquette;
Nach der zweiten Strophe folgte das eigentliche Bekleidungsangebot.
Es gab auch Werbung für Wanzenpulver, Schuhe, Bügeleisen, Schuhcreme, Tee, eine Gaststätte, Seife und Hühneraugenpflaster (überregional, 1928). Im Hamburger Echo vom 29.9.1925 wird mit Lenore für Gasherde geworben. Es beginnt mit:
Die Mutter fuhr ums Morgenrot              Zu spät aus ihren Träumen -
Die Kinder würden Frühstücksbrot          Und Schulbeginn versäumen,

Hamburger_Echo_29_9_1925
Über den Leipziger Kristallpalast wird 1915 berichtet: „Als den Hauptfilm möchten wir die wohlgelungene Bearbeitung des bekannten Bürgerschen Werkes 'Lenore' bezeichnen, der sich sowohl durch seine große Anzahl wirkungsvoller Szenen als auch durch die treffliche Darstellung in den Hauptrollen auszeichnet und den Freunden des Bürgerschen Werkes einen hohen Genuß bereitet.“ Wie viele andere Stummfilme ist auch dieser verschollen.
   Es zeigt sich, dass bis zum Zivilisationsbruch durch die Nationalsozialisten Bürgers Lenore durch Parodien präsent war, also echte Volkstümlichkeit erreicht hat. Wenn man bedenkt, dass auch die Wissenschaft dieses Werk lobt, hat Bürger hier sein Ziel der Volkstümlichkeit erreicht – und das ohne Abstriche an der Qualität zu machen. Nach 1945 folgte man weitgehend Schiller und Bürger wurde bis auf seinen Münchhausen weitgehend ignoriert und erst im letzten Viertel des Jahrhunderts wurde eine realistische Einschätzung seines Werkes diskutiert.

     Den beiden Weimarer Heroen haben wir also sehr wohl etwas entgegenzusetzen, noch dazu einen Demokraten. Heinrich Heine formulierte das so: „Der Name 'Bürger' ist im Deutschen gleichbedeutend mit dem Worte Citoyen.“ Hinzu kommt, dass im vorigen Jahr das in der DDR eingerichtete Museum in Bürgers Geburtshaus in Molmerswende aufwendig behindertengerecht saniert und neu gestaltet wurde. Das Museum ist von März bis Oktober, jeweils Mittwoch bis Sonntag und sonst nach telefonischer Anmeldung geöffnet.Wer sich im Internet informieren möchte, kann das Bürger-Archiv www.gottfried-august-buerger-molmerswende.de oder eine verkürzte Form für Mobilgeräte www.m.gottfried-august-buerger-molmerswende.de nutzen. Das Bürger-Archiv entstand in Zusammenarbeit mit dem Bürger-Biographen Helmut Scherer (Berlin) und basiert auf dessen Archiv und wurde seit 2006 immer wieder mit neuem Inhalt gefüllt.