Dr. Klaus Damert, Molmerswende

 

250 Jahre „Lenore fuhr ums Morgenroth"

Gottfried August Bürger erfand die Kunstballade neun Jahre vor Goethes Erlkönig.

 

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Lenore von Jos. Bergler in Bürgers Lenore für Gesang mit Begleitung des Pianoforte von W. J. Tomascheck, Prag 1805 

Jurist, Sprachlehrer und Lyriker

Es war der in Molmerswende geborene Amtmann Gottfried August Bürger (1747-1794), der Theologie in Halle und Jura in Göttingen studiert hatte und seit 1772 Amtmann der Familie von Uslar ist. In Göttingen hält er ab 1787 Vorlesungen über Kantische Philosophie und deutsche Sprache und erhält den Ehrendoktor für Philosophie; 1789 folgte die Ernennung zum außerordentlichen Professor. Immanuel Kant ist für ihn „der erste und einzige, dessen Philosophie die Foderungen meiner Vernunft befriedigt hat.“ Er übersetzte aus fünf Sprachen und nahm fremde Anregungen begeistert auf, doch will er „in Deutscher Zunge Deutsche Gedichte, verdaulich und nährend für's ganze Volk machen." Besonderes Augenmerk richtete er auf eine korrekte und schöne Sprache, die er sowohl an der Universität als auch bei den Juris­ten vermisste. Für ihn ist „Ächtes Sprachstudium nichts geringeres als Studium der Weisheit selbst“. Von seinen Gedichtbänden gab es bis 1861 insgesamt 61 Ausgaben, vorzugsweise Raubdrucke.

Die Idee

Die Anregung zur Lenore bekam Bürger durch einige plattdeutsche Zeilen, die er von einem Bauernmädchen hörte (19.4.1773). Er stand mit den jungen Dichtern des Göttinger Hain in regem Briefwechsel. Dadurch sind wir über die Entstehung der Lenore gut informiert und wissen auch, welchen Anteil der Hain am Werk hat. Obwohl Anfang Mai nicht mehr als die Idee und die erste Strophe existierten, ist er sich seiner Sache sicher: „Wenn es bei der Ballade nicht jedem eiskalt über die Haut laufen muß, so will ich mein Leben lang Hans Casper heißen" und „Ich gebe mir Mühe, das Stück zur Composition zu dichten. Es sollte meine größte Belohnung seyn, wenn es recht balladenmäßig und simpel componirt, und dann wieder in den Spinnstuben gesungen werden könnte."

Gemeinschaftsarbeit

Zwei Zufälle bringen Anregung und Bestätigung: Goethes ‘Götz’ erscheint und animiert zu drei Strophen. Von Johann G. Herders Beitrag über Volkspoesie fühlte er sich bestätigt und meint „Lenore soll Herders Lehre einiger Maßen entsprechen". Es folgt ein intensiver Briefwechsel, in dem Bürger seinen Text präsentiert, der dann vom Hain begutachtet, kritisiert oder Änderungen vorgeschlagen werden. Oft geht es um einzelne Wörter. Doch selbst in die Struktur des Gedichts greift der Hain ein; so wünscht er den Todesritt näher ausgeführt: „Ein Wink des Hains hat mir noch zu einigen neuen Strophen Anlaß gegeben auf die ich nicht wenig stolzire. Ich kann nicht bergen, daß ich sie selbst für vortrefflich und eine sogar für Shakespearisch erhaben halte. Nehmlich die Weite und die Geschwindigkeit des Rittes anzudeuten, hab' ich die Scene dreymal im Reiten sich verändern lassen [...] Das merkwürdigste ist, daß ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geträumt habe." Ende September 1773 ist die Lenore vollendet, erscheint im Göttinger Musenalmanach auf das Jahr 1774 und Bürger kann an die Grafen Stolberg melden: „Bey Griechen und Ungriechen hat sie obgesiegt. Was sagen Sie dazu, sie schweift schon unter dem Eichsfeldischen Adel herum und hat meinen Nahmen in diesem Böotien nicht wenig verherrlicht."

Der Siegeszug eines Gedichtes

Der Siegeszug der Ballade hat begonnen, Goethe rezitiert sie gern. Auf Jahrmärkten werden Liedflugschriften verkauft, die Bänkelsänger tragen sie vor, Drehorgelspieler, mechanisches Marionetten- und Kunstfiguren-Theater präsentieren das Werk. In Spinnstuben, auf der Bleiche und in Kneipen wird Lenore rezitiert, auswendig gelernt und so immer weiter verbreitet. Durch viele Raubdrucke erreichen Bürgers Gedichte auch Liebhaber mit wenig Geld. 1810 stellte der Göttinger Historiker Arnold H. L. Heeren fest: „Als Bürger's Lenore erschien, wußte man sie auch auswendig von der Elbe bis zur Donau.“ Lenore hat 32 Strophen! Was dem Volke gefällt, wusste 1864 der Pädagoge Hermann F. Kahle: „der muß Bürgers Gedichte lesen; denn keines deutschen Dichters Werke mögen in dem Umfange und mit der Begier vom Volke auswendig gelernt worden sein, als die Bürgerschen.“ Schon Buchhändler Johann G. Heinzmann wetterte 1795 gegen die Tochter, die lieber liest statt zu arbeiten und „einen Bürger, einen Musenalmanachsdichter mit geiler Lust auswendig lernt, und laut hersagt, was ein gesittetes Frauenzimmer ehemals weder hören noch lesen wollte.“ Bemerkenswert ist, dass es sogar zwei Stummfilme zur Lenore gab, 1913 aus Berlin, 1918 aus Wien. Das Leipziger Tageblatt vom 21.02.1915 berichtet über eine Aufführung in den Kristallpalast-Lichtspielen: "Als den Hauptfilm möchten wir die wohlgelungene Bearbeitung des bekannten Bürgerschen Werkes 'L e n o r e' bezeichnen, der sich sowohl durch seine große Anzahl wirkungsvoller Szenen als auch durch die treffliche Darstellung in den Hauptrollen auszeichnet und den Freunden des Bürgerschen Werkes einen hohen Genuß bereitet. Die einzelnen reizvollen Szenen sind bis aufs kleinste mit liebevollem Fleiß und hingebender Sorgfalt herausgearbeitet, auch die Kostüme genau jener Zeit der Puderperücke und des Zopfes angepaßt.“

Erfolgreiche Bearbeitung

Ungewöhnlichen Erfolg hatte Karl von Holtei mit seiner ‘Lenore. Vaterländisches Schauspiel mit Gesang in drei Abtheilungen’. Über einen Zeitraum von mehr als siebzig Jahren war das Stück sowohl auf großen Bühnen als auch im Gasthof und dem Wanderzirkus in der Provinz erfolgreich. Dabei war es eine sehr freie Interpretation, hatte jedoch zwei Vorzüge: man konnte sie auf die Stichworte „Todtenbraut“ oder „Todtenritt um Mitternacht“ reduzieren und später politisch missbrauchen. So warb der Circus Gymnasticus 1840 mit: „Zum Schlusse Pantomimische Vorstellung nach Bürgers Ballade 'Lenore' oder 'der Todten-Ritt um Mitternacht,' welcher sich mit einem unterirdischen Brillantfeuerwerk endiget.“ Missbrauch gibt es 1866 in Berlin: „Der Schluss des Schauspiels war dahin geändert, dass Pastor Bürger an der Leiche Lenorens prophetische Worte in Hinsicht auf Preussens glorreiche Zukunft spricht, während im Hintergrunde der grosse Friedrich, von electrischem Lichte beleuchtet, vorüberreitet.“ Um den überragenden Erfolg des Holteischen Stückes besser verstehen zu können, sei an den Schauspieler Albert Borée erinnert, der 1910 über seine Erlebnisse im Theaterwesen berichtet. E. K. im Vorwärts vom 27.4.1911 folgt Borée: "Natürlich — der Spielplan ist auch danach! 'Die Schmieren — bekundet Morèe aus tiefster Erkenntnis mit sarkastischem Humor — haben das eine mit den H o f b ü h n e n gemein: ihr Repertoir ist durch die 'Moderne' absolut nicht angekränkelt'. Die Landleute sahen am liebsten blutrünstige Tragödien, als da waren 'Der bayerische Hiesel', 'Urach der Wilde', [...] sowie die Haupt- und Staatsaktion aller Schmieren: Holtei 'Leonore' oder 'Der Totenritt um Mitternacht' — und warfen unter Beifallstosen Speck und Leberwürste auf die Bühne.' Jedes solcher Schauerdramen, 'in denen die Leichen schließlich herumlagen wie tote Fliegen, endigte mit einer großen Apotheose', die Borée drollig schildert." Die Lenore war häufig Sujet der Kunstreiter-Gesellschaften. Über einen solchen Auftritt in Pesth wird 1852 berichtet: “Soll ich Ihnen auch vom Kunstreiter-Cirkus berichten? Sie werden mich dieser Mühe gewiß entheben, denn Sie setzen bei mir keine Roßnatur voraus, — und doch erzähle ich Ihnen, daß sie ‘Leonore, oder der Todtenritt um Mitternacht’ aufgeführt haben. O, armer Bürger, wie haben sie Dich hier im Circo Beranek pantomimisch mißhandelt! Du hättest, wärst Du zugegen gewesen, bei dieser vorgeschrittenen Hyppologen- Phantasie den Hals brechen müssen. Dickwattirte Grazien mit purpurrothen Shawls, schwarze Teufel mit feuersprühenden Schwänzen, ein Skelettenritt auf hungrigen Kleppern — und dies Alles im Jahre 1852! Stirb Menschheit, stirb, — die Rösser sind Dramaturgen geworden! O, daß sie ewig grünend bliebe, die schöne Zeit der Kunstreiter-Pantomimenliebe!” Diese Misshandlung ist jedoch steigerungsfähig. 1923 wird über ein grosses Schaustück mit 100 Mitwirkenden beim Zirkus Sarrasani berichtet: "Es führt den Titel 'Fridericus' und stellt eine Bearbeitung des Holteischen Volksstückes 'Lenore, die Grabesbraut' dar, deren Stoff der Bürgerschen Ballade entnommen ist."

1923 Dresdner neueste Nachrichten 24 04

Im nächsten Jahr ist vorzüglich das Deutschsein Thema: "Das Schaustück wird in neun Bildern dargeboten. Der einleitende Fanfarenmarsch war prachtvoll, ebenso der Monolog, den der der Vergangenheit entstiegene Fridericus hielt. 'Besinnt euch Deutsche doch, daß deutsch ihr seit' war der Sinn seiner Worte." Endgültig beim Zeitgeist ist man 1933 angekommen: "Am Ostersonntag nun will Direktor Stosch-Sarrasani mit seinem neuen Manegeschaustück 'Fridericus Rex' zeigen, daß er auch sein Unternehmen in den Dienst am deutschen Volkstum stellt. 'Fridericus Rex' bringt besonders markante Episoden aus dem Leben dieses deutschen Fürsten und endet mit einer Apotheose, die in ihrer Pracht und durch die Zahl der Mitwirkenden zu dem Schönsten gehört, was uns der Zirkus Sarrasani überhaupt geboten hat."



Die komponierte Lenore

Die Popularität der Lenore ging jedoch über das geschriebene, besser das deklamierte Wort hinaus, dem Bürger die Hälfte der Wirkung zuschrieb. Damals sang man alle Strophen nach einer einzigen Melodie; der Komponist des Göttinger Hain, Friedrich Weis, liefert dazu das erste Beispiel. Das war jedoch unbefriedigend. So entstand speziell zur Lenore eine neue musikalische Form: das durchkomponierte Lied, in dem jede Strophe oder eine Gruppe von Strophen eine eigene Melodie erhält. Einer dieser mehr als 200 Komponisten war Johann André, dessen Vertonung so erfolgreich war, dass sie in Berlin als Gassenhauer gesungen wurde, wie Carl F. Zelter missmutig an Goethe schrieb. Die Entwicklung blieb dabei nicht stehen. Auch andere musikalische Formen wandten sich der Lenore zu: Sinfonie, sinfonische Dichtung, Oratorium, Oper, Deklamation mit instrumentaler Begleitung. Die am weitesten vom Text entfernte Interpretation lieferten Ludwig van Beethoven mit seiner Klaviersonate A Dur op. 101 und Anton Rubinstein mit ‘Ballade Léonore de Bürger pour Piano’.

Die gemalte Lenore

Die Geisterballade beflügelte viele Maler und Illustratoren. Merkwürdig war bei wichtigen Künstlern die Untreue ge­genüber der Vorlage. Den dramatischen Zusammenbruch Lenorens verwandeln sowohl Carl Oesterley, Carl Friedrich Lessing als auch Ary Scheffer in stumme Resignation. Bei Lessing ist bekannt, dass er werktreu begonnen hatte und erst auf Anraten von Johann Gottfried Schadow, der unter dem Eindruck einer Italienreise stand, die „klassische“ undramatische Form wählte. Derlei Verfälschung ist bei den Illustratoren nicht zu finden.

Parodien überall

Die allgemeine Beliebtheit der Lenore rief die Parodisten auf den Plan. So gab es Parodien, die sich um eine formal vollständige Analogie bemühten; in viel größerem Umfang wurden jedoch einzelne Motive aus dem Werk verwendet. Einen beträchtlichen Umfang nehmen politische Parodien ein. Satirezeitschriften, aber auch Tageszeitungen nutzen Motive und es gibt eine Reihe von Bildergeschichten, z. B. ‘Schauderöse Abenteuer eines Coupons, oder: Die Schneeverwehung des Unionbank-Directors Minkus’, deren realen Hintergrund das Wiener Handelsblatt 1875 beschreibt. Die Wirkung der Lenore war nicht auf den deutschen Sprachraum beschränkt, zu den bis 1892 erschienen mehr als 30 verschiedene Übersetzungen ins Englische gehörten die ersten drei Parodien - mit starker erotischer Note. Die erste deutsche Parodie erscheint erst 1804: ‘Poetisch-prophetische Construction der Geschichte der Kantischen Philosophie’. 

Werbung und Gelegenheitsparodien

Unvermeidlich war wohl die Nutzung für Werbetexte, so für Hühneraugenpflaster, Gasherde, Bügeleisen, Konfektion, Wanzenpulver, Seife, Schuhcreme, eine Hamburger Bar oder indischen Tee. Freigesprochen vor Gericht wurde die Mödlinger Schuhfabrik, die 1888 als Werbung die Parodie ‘Ein Schuster fuhr ums Morgenroth empor aus schweren Träumen’ veröffentlichte. Der Buchdruckereibesitzer, der 1855 die Parodie ‘Hans Daniel fuhr ums Morgenroth’ über den Politiker Hassenpflug gedruckt hatte, wurde dagegen zu Festungshaft verurteilt und wirtschaftlich ruiniert.
    In den Zeitungs- und Zeitschriftenbeständen findet man in großer Anzahl in unterschiedlichsten Zusammenhängen parodistisch verwendete Motive aus der Lenore, z. B. „fuhr ums Morgenroth“, „Sechs Brettern und zwei Brettchen“, „Schläfst, Liebchen oder wachst du“, „frug den Heerzug auf und ab, / Sie frug nach allen Namen“ oder „Graut Liebchen auch vor Todten“.
Ein kurzes Beispiel aus den Lustigen Blättern von 1900:
   “A. : Ich denke, alle Europäer in China sind ermordet;
        und jetzt stehen sie schon wieder vor Peking?
    B. : Nun ja: die Todten reiten schnell.”

Das Erfolgsrezept

Wie war es möglich, sowohl die Gebildeten als auch die breite Bevölkerung, die kaum lesen und sich auch kein Buch kaufen konnte, zu erreichen? Mit dieser Frage beschäftigte sich die Forschung erst im 20. Jahrhundert. Es ist neben dem volkstümlichen Motiv die Sprache. Bürger war als Pfarrerssohn schon sehr früh mit der Lutherbibel und dem Gesangbuch vertraut, er kannte mehrere Lieder auswendig. Der Wortschatz der Lenore ist der Wortschatz der Lutherbibel und des evangelischen Gesangbuches – der damaligen Bevölkerung vertraut. Die Beziehung ist jedoch noch enger. Es werden auch Passagen aus der Bibel und einzelnen Kirchenliedern schöpferisch übernommen. Ein markantes Beispiel ist die wilde Gestik des verzweifelten Mädchens:
  Zerraufte sie ihr Rabenhaar,
  Und warf sich hin zur Erde,
  Mit wütiger Geberde.
Vorbild ist der mit seinem Schicksal hadernde Hiob: er „zerriß sein Kleid, und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde" (1,20)

Der marginalisierte Poet

Wieso kann der Schöpfer eines so bedeutenden Werkes, das zudem einen kaum zu überbietenden Publikumserfolg hatte und noch hat, weitgehend unbekannt sein oder nur als Autor der als Liebhaberei nebenher entstandenen Münchhausen-Geschichten wahrgenommen werden? Es war die Deutsche Klassik, die sich nach Goethes Tod entwickelte und die zur Beurteilung Bürgers die Rezension des zwölf Jahre jüngeren Friedrich Schiller zu Bürgers Gedichtausgabe von 1789 als Maßstab heranzieht. Schiller, der 1782 als Bürger-Epigone begann und sich noch 1784 bedingungslos dem Publikum unterwerfen wollte, hat in seiner Rezension von 1791 Bürger persönlich angegriffen: unreifer Jüngling; ungeschlachte, ungebildete Individualität; vermischt sich nicht selten mit dem Volk, zu dem er sich nur herablassen sollte und sprach ihm ab, ein Dichter zu sein.

Späte Rehabilitierung

Ziel der Klassiker war die Erziehung, da nach Schiller “die Gesetze tugendhaft sind, wenn auch gleich noch nicht die Menschen”. Diesem Grundsatz folgten Generationen von (staatshörigen) Lehrern. Bürger war dagegen, wie Heinrich Heine treffend bemerkte, ein “citoyen”, hatte stets die aktuellen gesellschaftlichen Zustände im Blick und scheute sich nicht, sie zu benennen, z. B. ‘Der Bauer An seinen durchlauchtigen Tyrannen’ oder die Balladen ‘Der wilde Jäger’ und ‘Die Kuh’. Die französische Revolution begrüsste er und stellte fest: “Wer nicht für Freiheit sterben kann, Der ist der Kette wert.” Doch nicht nur an seiner politischen Haltung wurde Anstoss genommen, fast noch stärker war die moralische Verurteilung wegen der Ménage à trois sowie der unglücklichen dritten Ehe mit dem Schwabenmädel. Die unsterblichen Molly-Lieder – sie gehören zu den besten deutschen Liebesgedichten – hätte es allerdings ohne die Liebe zur Schwester seiner Frau nicht gegeben. Auch einige freizügige Gedichte wie ‘Frau Schnips’ oder ‘Prinzessin Europa’ entbehrten der rechten Moral, dabei wäre eine Untersuchung zu Bürgers literarischen Frauengestalten höchst interessant. 
   Es hat bis ins letzte Viertel des vorigen Jahrhunderts gedauert, bis dieser Sicht auf Bürgers Werk nicht mehr nur von Einzelnen ernsthaft widersprochen wurde. Auf der Strecke blieben aber grosse Balladen wie ‘Des Pfarrers Tochter von Taubenhain’ sowie humoristische sowie sozialkritische Werke.

Vom Aphoristiker Bürger

Mittel gegen den Hochmuth der Großen

Viel Klagen hör' ich oft erheben
Vom Hochmuth, den der Große übt.
Der Großen Hochmuth wird sich geben,
Wenn unsre Kriecherei sich giebt.
 


Prognostikon

Vor Feuersglut, vor Wassernot
Mag sicher fort der Erdball rücken.
Wenn noch ein Untergang ihm droht,
So wird er in Papier ersticken.



Herr von Gänsewitz zum Kammerdiener

Befehlt doch draußen, still zu bleiben!
Ich muß itzt meinen Namen schreiben.


Vom Wortschöpfer Bürger

Adelsbrut, Gemeingut, Haremswächter, goldeswert, Hundemut, Lausejunge, querfeldein, Rabenhaar, sattelfest, teller­groß, tiefbetrübt, Unschuldsdieb, Vornehmtuerei, Wolkendecke, wonnetrunken, Umgangssprache